„Irgendwann muss doch mal Schluss sein!“

Vor kurzem habe ich in einem Blog ein Bild gesehen, das mich sehr bewegt:

Blick etwa aus doppelter Mannshöhe auf einen von der Abendsonne beleuchteten gepflasterten Platz. Ein alter Mann mit Stock kommt dem Betrachter entgegen. Im Gegenlicht ist er nur als schwarze Silhouette zu sehen. Der lange Schatten, den er wirft, gehört zu einem kleinen Kind an den Händen seiner Eltern. Der Vater hält an der anderen Hand eine ältere Schwester des alten Mannes. Im unteren Drittel des Bildes liegt quer über den Schatten der Eltern ein schwarzer Balken mit weißem hebräischem Text (Deutsch: "Jom haScho’a – Holocaustgedenktag 2012").
„Jom haScho’a – Holocaustgedenktag 2012“

Offizielles Poster zum Jom haSho’a 2012 in Israel, entworfen von Dorielle Rimmer-Halperin im Rahmen eines Projektes der Internationalen Schule für Holocaust-Studien (ISHS) in Yad Vashem unter Beteiligung des Ministeriums für Diplomatie und Diaspora (Israel).
Mit freundlicher Erlaubnis von Dorielle Rimmer-Halperin hier wiedergegeben.

Das Bild spricht für sich selbst und braucht wohl keine Erklärung. Ich finde es sehr eindrücklich, und es gehört zum Traurigsten, was ich seit langem gesehen habe. Und damit komme ich gleich zu meiner Überschrift. Das ist eine Parole, die man in den letzten Jahren leider häufiger hört. Sie kommt in verschiedenen Formen vor, der zugrundeliegende Gedankengang geht wohl ungefähr so:

Ja, die Nazis [gelegentlich schwingt mit: natürlich nicht Deutschland oder die Deutschen allgemein, die waren ja fast alle dagegen, mussten aber mitmachen, die sind also nicht schuld; nur die Nazis also] haben den Holocaust verbrochen.

Ja, das war furchtbar und hätte nicht sein dürfen. [gelegentlich schwingt mit: obwohl, Schwule brauchen und wollen wir nicht, geistig Behinderte auch nicht, und die Juden, Zigeuner usw. hätte man nicht unbedingt ermorden müssen. Rauswerfen hätte gereicht.]

Auch der Krieg wäre nicht nötig gewesen [gelegentlich schwingt mit: obwohl, Stalin hätte früher oder später sowieso einen angefangen, und Versailles konnte man auch nicht so stehenlassen. Es kommt also letztlich sowieso auf dasselbe hinaus.]

ABER: Deutschland hat teuer bezahlt und reichlich gebüßt. [Dresden wird hier gern genannt, überhaupt der Bombenkrieg, die Feuerstürme. Und die Vertreibung aus den Ostgebieten. Die Gräuel v.a. der sowjetischen Armee bei der Eroberung deutschen Territoriums. Die Demontage. Die Kriegsverbrecherprozesse. Die Wiedergutmachungszahlungen an Überlebende. Dass manche Länder, ironischerweise etwa Griechenland, noch erhebliche Forderungen gegen Deutschland haben, die nur wegen trickreicher Mauscheleien der Alliierten zugunsten Deutschlands nicht eingetrieben werden können, wird dabei gern unterschlagen. Auch dass die an Holocaustüberlebende gezahlten Renten zum Teil beschämend niedrig sind und oft mit erheblichem bürokratischem Aufwand erkämpft werden mussten, wird nicht gern thematisiert. Dass es sich bei den Leistungen aus Deutschland eher um symbolische Akte als um tatsächlichen Schadenersatz handelt, wird auch nicht gern gehört. Echter Schadenersatz wäre gar nicht finanzierbar. Und das ganze Leid ließe sich mit allem Geld der Welt nicht ungeschehen machen oder kompensieren, es muss also zwangsläufig bei wichtigen, aber letzten Endes unzulänglichen symbolischen Akten bleiben.]

Und wir (also die nach dem Krieg Geborenen) haben damit sowieso nichts mehr zu tun. Wir tragen keine persönliche Schuld, Sippenhaftung ist nicht statthaft, und immerhin hat sich Deutschland – anders als etwa Japan oder Österreich – intensiv mit der eigenen Geschichte und Schuld auseinandergesetzt. Irgendwann muss doch mal Schluss sein, das ist doch alles schon so lange her. Lasst uns endlich in Ruhe, es reicht!

Und das ist falsch. Es reicht nicht, es darf nicht Schluss sein. Solange noch Überlebende des Holocaust oder des von Deutschland losgetretenen Eroberungs- und Vernichtungskrieges am Leben sind; solange es noch Menschen gibt, die als kleine Kinder ihre Eltern, Geschwister oder andere Verwandten im Viehwaggon oder auf der verfluchten Rampe von Auschwitz zum letzten Mal sahen; solange es noch Menschen gibt, die in den von der Wehrmacht eroberten Gebieten furchtbare Übergriffe, „Strafaktionen“ und Massaker deutscher Soldaten miterlebt und dabei vielleicht Nachbarn, Freunde und Familie verloren haben; solange während des Dritten Reiches enteignetes, erschwindeltes oder gestohlenes Vermögen nicht den ursprünglichen Besitzern oder deren Erben zurückgegeben wurde; solange Neonazis in Deutschland offen für „national befreite Zonen“ kämpfen und dabei Menschen beleidigen, durch die Straßen jagen, zusammenschlagen oder ermorden; solange Polizei und Justiz gelegentlich den Eindruck erwecken, die Nazis zu decken und lieber ihre Gegner zu verfolgen (man denke nur an Eisleben, an die Verurteilung von Tim H., oder auch an den Prozess gegen Lothar König in Dresden); solange sich überhaupt noch ein Mensch vor allem in Deutschland, aber auch anderswo, auf Adolf Hitler und die furchtbare Ideologie seiner Partei beruft:

Solange kann kein Schluss sein, mindestens. Solange muss an den Holocaust erinnert werden. Und danach auch noch lange. Das ist natürlich unbequem für alle, die schon wegen ihrer späten Geburt tatsächlich keine persönliche Schuld tragen. Es ist schmerzhaft für alle Beteiligten. Aber für die Überlebenden, denen im Namen Deutschlands und einer krankhaften Ideologie das Leben völlig ohne Grund auf furchtbare Weise zerschossen wurde, für die ist nie Schluss, solange sie leben. Sie werden das Erlebte nie vergessen können, sie werden bis zum letzten Atemzug an den Folgen leiden. Manche sichtbar, manche im Verborgenen. Aber sie leiden. Und dasselbe gilt für ihre Kinder und Enkel – sie können sich diesem Erbe auch nicht entziehen.

Weil das so ist, können und dürfen wir – die Nachfahren der Täter, der Mitläufer, derer, die „nichts gewusst“ haben und derer, die schon irgendwie eher dagegen waren, aber aus welchen (oft ja durchaus nachvollziehbaren) Gründen auch immer nicht gehandelt haben – uns nicht einfach mit Irgendwann muss doch mal Schluss sein aus der Affäre ziehen. Es ist nicht Schluss, und es wird in absehbarer Zeit auch nicht Schluss sein mit den alten Geschichten. Und wann Schluss ist, haben nicht wir zu entscheiden. Wir können kein Ende verlangen, höchstens auf Vergebung hoffen, wobei Vergeben nicht gleich Vergessen ist.

Es ist nun einmal so, Deutschland hat das ohne Not verbrochen, und da steht uns ein gehöriges Maß Bescheidenheit und Demut an, etwa wie es Willy Brandt mit seinem Kniefall in Warschau gezeigt hat. Irgendwann muss doch mal Schluss sein ist falsch. Man kann nun einmal nicht die halbe Welt in Schutt und Asche legen, hinterher hier ein paar ausgewählte Trümmerberge wegräumen, dort ein bisschen was Neues bauen, einigermaßen viel für gute Zwecke spenden und dann mit einem halb unwirschen, halb verschämten Stimmt so zum Alltag zurückkehren wollen. Auch der mangelhafte Umgang anderer beteiligter Länder oder Völker mit ihrer eigenen Schuld kann nicht als Rechtfertigung dienen, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Und Was soll das jetzt noch, das ist doch alles schon so lange her ist auch kein stichhaltiges Argument. Das ist ein natürlich ausgesprochen unbequemes Erbe, das wir nicht einfach ausschlagen können.

Wenn irgendwann einmal Schluss ist, dann sicherlich nicht, weil wir nichtjüdischen Deutschen ein Recht darauf hätten, dass die Überlebenden uns mit ihrem Gejammer endlich in Ruhe lassen, oder weil wir uns das irgendwie verdient hätten. Wenn einmal Schluss ist, dann weil die Leute, für die der alte Mann auf dem Bild steht, uns nichts mehr nachtragen wollen. Weil sie uns Nachgeboreren kein schlechtes Gewissen machen wollen und uns nicht für die Verbrechen unserer Vorfahren verantwortlich machen. Weil sie das alte Gesetz Auge um Auge, Zahn um Zahn eben nicht bis zum Letzten anwenden, sondern mehr Barmherzigkeit und Fairness walten lassen, als ihnen in diesem Land je widerfahren ist.

Hintergrundinformationen zum Poster:

Arutz Sheva – Haunting and Poignant Poster Marks Holocaust
Dorielle Rimmer’s Facebook Timeline

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Eine Englische Version dieses Artikels gibt es hier.

Nachtrag (20. Juni 2013): Ein Beispiel für die beschämende Behandlung ehemaliger Ghettobewohner, die während ihrer Zeit im Ghetto rentenversicherungspflichtig bei deutschen Arbeitgebern beschäftigt waren, kann man hier bei Publikative nachlesen. Wohlgemerkt, es geht um die Behandlung durch deutsche Behörden in unseren Tagen. Genauer gesagt, um die bisher meist vergeblichen Versuche der Überlebenden, ihre Ansprüche aus Ghettozeiten in Deutschland geltend zu machen, um die bürokratischen Steine, die ihnen dabei in den Weg gelegt werden, um das unwürdige Lavieren der deutschen Justiz in dieser Angelegenheit. Es ist eine Schande!

Nachtrag (28. Januar 2015): Interessanter Artikel über die deutsche Entschädigungspraxis von Kriegsende bis heute: Das Ende der Wiedergutmachung (mittlerweile leider hinter der Bezahlschranke)

Autor: gnaddrig

Querbeet und ohne Gewähr

26 Kommentare zu „„Irgendwann muss doch mal Schluss sein!““

  1. Zwei Dinge sind wichtig. Erstens haben insbesondere die Russen auch ungeheuer große Verbrechen begangen. Die Russen wurden aber nach 1945 durch Gebietsgewinne belohnt. Und zweitens verliert die NPD immer mehr Anhänger. Es ist eigentlich unmöglich, dass es eine Wiedergeburt des Nazismus gibt. Darum sollte man heute mit dem Nazismus anders umgehen, als früher. Mehr dazu auf meinem Blog (bitte auf meinen Nick klicken).

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  2. @ Eso-Policier: Erstmal ganz kurz:

    Ja, haben die Sowjets. Das hat aber mit dem, was Deutschland und die Deutschen getan haben, wenig zu tun. Jedenfalls macht es den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg kein bisschen weniger schlimm.

    Und die NPD ist beileibe nicht der einzige Träger rechtsradikaler Ideologie in Deutschland. Die wirklich gefährlichen Rechtsextremen sind nicht in der NPD, sondern anderswo, und viel aktiver als diese Altherrenpartei. Und auf die virulenten Nazis muss man ein Auge haben. Wenn die NPD das einzige rechte Problem in diesem Land wäre, müssten wir uns tatsächlich keine Sorgen machen. Ist aber leider nicht so.

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  3. @ gnaddrig
    M. E. sind z. B. die Rechtspopulisten der Pro-Partei keine Nazis. Und die Nazi-Terroristen sind viel weniger gefährlich, als die islamistischen Terroristen. Man zähle doch einmal die Nazi-Terroranschläge, und die islamistischen Terroranschläge, die es seit dem Jahr 2000 gegeben hat.

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  4. @ Eso-Policier: Ach hören Sie auf, das ist doch Kindergartenniveau. Es ist völlig sinnlos, Opferzahlen gegeneinander aufzurechnen. Für die Bewertung und Behandlung terroristischer Anschläge egal welcher politischen Motivation ist es gleichgültig, wieviele Menschenleben Anschläge anders motivierter Gruppen kosten. Und selbst wenn rechtsradikale Terroristen im internationalen Vergleich bislang noch eher kleine Lichter sind, ist das kein Grund, sie als harmlos abzutun und abzuwarten, bis die sich zu was wirklich Bedrohlichem mausern.

    Dass Nazis auch heutzutage vor Gewalt aller Art nicht zurückschrecken, haben sie hinlänglich gezeigt. Dass sie mittlerweile nicht mehr immer so einfach an ihren Glatzen und Hakenkreuztattoos zu erkennen sind, dass sie professionelle PR machen, konspirativ vorgehen und offensichtlich langfristig denken, sollte zu denken geben.

    Nun mag es sehr unwahrscheinlich sein, dass es wieder zu so etwas wie dem Dritten Reich kommt. Schon gar nicht mit der NPD. Aber es ist nun einmal tragische Tatsache, dass rechtsradikal motivierte Gewalttäter seit Anfang der 90er Jahre ungefähr 180 Menschenleben gewaltsam und teils auf bestialische Weise beendet haben. Und das interessiert mich hier deutlich mehr als alles, was irgendwelche Islamisten oder sonstigen Fanatiker anderswo so angestellt haben.

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  5. Danke. Wichtig und viel zu selten artikuliert, finde ich (nicht der Dank an mich, sondern der Inhalt des Artikels). Gerade dieses Thema darf man weder den Holocaustleugnern noch der Nun-lass-doch-endlich-gut-sein-Fraktion überlassen.

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  6. Ganz richtig. Und ich finde es wie Du wichtig, dass eben auch die Nachgeborenen ein Lehre daraus ziehen, und ebendeshalb müssen die Verbrechen der Nazis immer wieder artikuliert werden. Genau das hast Du in Deinem Artikel ja auch sehr gut zum Ausdruck gebracht. Und nochmal ganz richtig: Dieses Thema darf nie der Gutseinlassen-Fraktion überlassen werden.. Ach, was scheib ich – Dein Artikel spricht mir voll und ganz aus der Seele (und das Plakat treibt mir die Tränen in die Augen).

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  7. Mit dem Plakat geht es mir genauso. Beim ersten Mal habe ich lange mit Tränen und Kloß im Hals davorgesessen. Ich habe die Nachwirkungen von Krieg und Vertreibung in der eigenen Familie miterlebt. Meine Großeltern waren aus Ostpreußen und haben bei der Flucht fast alles verloren, und eine Menge männlicher Verwandtschaft ist im Krieg geblieben.

    Ich kann nicht ermessen, was ein für Juden im Dritten Reich typisches Schicksal mit Menschen anstellt, man kann das von den eigenen Erfahrungen sicher nicht so ohne weiteres hochrechnen. Es wird in den meisten Fällen abrupter und unerwarteter und schon deshalb viel brutaler gewesen sein. Aber was ich an meinen Großeltern und Eltern beobachtet habe, reicht mir vollkommen aus. So ein Schicksal prägt dauerhaft, da hat man lange was von.

    Vor dem Hintergrund haben mich die Lass-gut-sein-Plädoyers mehr und mehr gestört, und das Plakat war dann der Anlass, mir das ganze Thema von der Seele zu schreiben.

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  8. @Eso-Policier:
    „Es ist eigentlich unmöglich, dass es eine Wiedergeburt des Nazismus gibt.“

    Sehen Sie das heute auch noch so?

    Wahrscheinlich sieht da niemand mehr irgendwas, der Namens-Link verweist auf eine von diesen computergenerierten Textmüllseiten, irgendsoein englisch-indonesisches Gebrabbel…

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  9. Jana Hensel schreibt auf Zeit Online über das Geschichtsbild der Deutschen, über die Erinnerungskultur und die Auseinandersetzung mit dem Verhalten unserer Familien während der NS-Zeit: Opa war kein Held.

    Sehr lesenswert!

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  10. Daniel Kehlmann in einer Rede zum Thema Tradition über die Serie unwahrscheinlicher Zufälle, dank derer sein Vater das Vernichtungslager Mauthausen überlebte: Es ist gerade erst geschehen.

    Hier habe ich zum erstenmal Details über Mauthausen erfahren und bin wieder einmal erschüttert. Wo Auschwitz v.a. eine kalte Mordfabrik war, in der aktive Quälerei zwar auch stattfand, aber meines Wissens nicht zur offiziellen Linie der Lagerleitung mit ihrer auf Effizienz getrimmten Mordindustrie gehörte, war Mauthausen ein Ort, wo die Insassen durch einen möglichst unerträglich gestalteten Alltag mit nicht schaffbarer Arbeit, überzogenen Strafen für kleinste Vergehen und mörderische Willkür des Personals systematisch auf bestialische Weise zu Tode gequält wurden. Ein Ort unsäglicher Barbarei und Schande.

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  11. Es darf kein Vergessen geben, solange die Überlebenden des Holocaust und deren Nachfahren Tag für Tag mit den Folgen der Vernichtungsorgie leben müssen. Jetzt geht der vermutlich letzte Prozess gegen einen der Mittäter zuende, den KZ-Wachmann Bruno D., der im KZ Stutthof Dienst tat. Die Täter und ihre Opfer bzw. deren Hinterbliebenen sind mittlerweile zu alt für Prozesse, sie sterben weg. Die Opfer sterben dabei fast immer, ohne Gerechtigkeit gesehen zu haben.

    Hier das Plädoyer der Anwälte der Nebenkläger im Prozess gegen D. – ein flammender Appell gegen das Vergessen, dem ich mich voll und ganz anschließe: „Vergesst uns nicht, erzählt es weiter!“

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In den Wald hineinrufen

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