#KiyiyaVuranInsanlik

Ich weiß, im Moment schreiben alle über Flüchtlinge. Die Mittelmeerroute ist schon seit Monaten ein zentrales Thema. Die vielen kleineren und größeren Schiffsunglücke mit Hunderten ertrunkener Flüchtlinge. Die feigen und gewissenlosen Schlepper. Die überforderten Küstenwachen der Mittelmeerländer. Das breite Spektrum zwischen Betroffenheit und Hilfsbereitschaft auf der einen und abgestumpfter Gleichgültigkeit auf der anderen Seite der Anwohner dort. Die Bevölkerung von Lampedusa als Lichtblick. Der Stacheldrahtzaun in Ungarn als das Gegenteil. Es ist ein Elend und eine Schande.

Immer wieder kommen, und in den letzten Wochen häufiger, Blogartikel, in denen ganz normale Leute von nebenan versuchen, Flüchtlingsschicksale nachzuempfinden (hier etwa, oder hier), weil die Schicksale sie berühren und nicht loslassen. Trauriger Höhepunkt war jetzt das Bild von dem ertrunkenen kleinen Jungen, Ailan Kurdi, am Strand von Bodrum in der Türkei, und die Geschichte hinter dem Bild. Der Vater hat erzählt, was passiert ist, und es zerreißt mir das Herz.

Ich habe selbst eine Frau und zwei Kinder, und es fällt nicht schwer ich kann es gar nicht vermeiden, das Schicksal der Familie Kurdi mit dem von Emilundida skizzierten Szenario zusammenzubringen. Das Kopfkino läuft von ganz alleine. Da auf dem Strand von Bodrum könnte statt Ailan Kurdi meine Tochter liegen. Die andere würde, auch längst ertrunken, wohl noch irgendwo im Mittelmeer treiben. Meine Frau auch. Ich würde sie auch nach Hause bringen und beerdigen wollen, und ich würde mich auch danebenlegen wollen ins Grab.

Ich kann mir nicht vorstellen, wie es in Abdullah Kurdis Kopf aussieht. Ich kann es mir nur zu gut vorstellen. Ich will es gar nicht wissen, aber ich kann es auch nicht einfach beiseitewischen. Es hat ihn und seine Familie getroffen, nicht mich und meine. Dafür bin ich dankbar und zugleich wünschte ich, er wäre mit seiner Familie auch davongekommen. Dieses Schicksal haben sie nicht verdient, nicht verschuldet, nicht zu verantworten.

Es ist, muss ich ehrlich sagen, schwer zu ertragen. Kinderschicksale gehen vielen besonders nahe, mir auch, gerade weil ich selbst Kinder habe. Und dieses Schicksal ist nur eins von vielen Tausend, die sich seit Jahren an den Rändern von Europa ereignen, und schon diese eine Geschichte ist kaum zu ertragen. Gut, dass ich die vielen anderen so genau nicht kenne.

Dass gerade der Tod von Ailan Kurdi so viele so anrührt, liegt sicher an den Bildern, die derzeit um die Welt gehen – das von Ailan am Strand, mit dem Gesicht im Wasser und das von dem Polizisten, der den kleinen Kerl aufgehoben hat und wegträgt. Vielleicht braucht es solche Bilder, um die Tragödie sichtbar zu machen. Jedenfalls ist Ailan Kurdi nur eine von vielen Tausend ähnlich schlimmen Geschichten, die sich seit Monaten rund um das Mittelmeer ereignen. Jede davon im Prinzip genauso herzerreißend, nur eben nicht so sichtbar.

** * **

Ich möchte den Vater, Abdulla Kurdi, in den Arm nehmen und trösten, stellvertretend nur für all die vielen anderen, die auch Trost und Beistand gebraucht hätten und noch brauchen. Aber was sollte ich ihm sagen? Wird schon wieder? Frau und Kinder sind tot, die kommen nicht wieder. Das Leben geht weiter? Wo und wie denn, in Kobane unter der Knute des IS? Oder vielleicht in Freital, in Weissach, in brennenden Unterkünften, mit kostenloser Freihauslieferung von Faustschlägen, Pfefferspray und Backsteinen?

Überhaupt, diese Schicksale sind für sich schon starker Tobak. Es ist furchtbar, dass es Länder gibt, wo Leute Hals über Kopf fliehen müssen, weil sie sonst eingesperrt, niedergemetzelt oder im Namen einer pervertierten Religion oder sonst einer idiotischen Ideologie in den Dienst menschenfeindlicher, hartherziger, grausamer, arroganter Drecksäcke mit Allmachtsfantasien gepresst werden (Details zum Leben im Einflussbereich des IS kann man nach Belieben googlen, das erspare ich mir hier; Assad in Restsyrien ist kein bisschen besser, und auch sonst sehe ich zwischen Casablanca und Karatschi nicht allzuviele Lichtblicke; gegen den einzigen Rechtsstaat dort wird unablässig von allen Seiten gehetzt), oder weil sie sonst der eigenen Familie beim Verhungern oder Versacken in Perspektivlosigkeit zusehen müssen.

Dass es dann Drecksäcke gibt, die sich an diesem Elend bereichern. Waffenhändler etwa (Wer ist übrigens einer der größten Waffenexporteure auf diesem Planeten? Schande über mein Land!). Oder Schlepper, die diesen armen Säuen das letzte Hemd stehlen als Gegenleistung für die Höllenfahrt über das Mittelmeer oder in einem Lastwagen mit dem Ziel Europa. Diese Horrortrips, auf denen viel zu viele unterwegs elend verrecken, sei es im Meer oder im Lkw. (Wie es sein mag, so verzweifelt zu sein, dass man dieses – ja mittlerweile wohl weltweit hinlänglich bekannte – Risiko in Kauf nimmt, um nur ja wegzukommen, mag ich mir gar nicht vorstellen! Dagegen ist ja russisches Roulette ein Kindergartenvergnügen!)

Das alles ist schlimm. Furchtbar, unvorstellbar, kaum zu ertragen. Hierzulande mögen die Geburtenjahrgänge bis vielleicht 1940 eine ungefähre Vorstellung davon haben. Vielleicht.

** * **

Soweit so schlimm. Dass dann aber noch Leute hier, im satten, reichen Europa und vor allem im übersatten, stinkend reichen (und mindestens teilweise auf anderer Leute Kosten reich gewordenen) Deutschland es fertigbringen, den armen Leuten, die es trotz allem bis hierher geschafft haben, die Dächer über den Köpfen anzuzünden, ihnen Pfefferspray in die Zimmer zu sprühen oder Molotow-Cocktails durch die Fenster zu werfen; diese armen Leute zu bedrohen, tätlich anzugreifen und ihnen das bisschen Unterstützung zu neiden, dass sie hier kriegen, ist absolut bodenlos. Haben die keine Spiegel in ihren Wohnungen? Warum kotzen die nicht jeden Tag beim Rasieren ihr Waschbecken voll?

Dass diese Bratzen die Stirn haben, alle als Volksverräter zu beschimpfen, die nicht wie sie „asylkritisch“ eingestellt sind, ist sowas von unterste Schublade, das gibt’s gar nicht. Dazu kommen dann die herzlosen, dreckigen, hämischen Kommentare unter praktisch allen Zeitungsartikeln zum Thema Flüchtlinge. Diese Jauche kann man schon gar nicht mehr lesen.

Als der Lkw mit den erstickten Flüchtlingen in Österreich entdeckt wurde, wurde frohlockt, vielfach öffentlich und unter Klarnamen. Jetzt anlässlich der Geschichte der Familie Kurdi auch. Wann immer irgendwo eine Unterkunft abgefackelt wird oder der Mob sich vor einer Unterkunft aufbaut und den ganzen Hass unverblümt in die Welt bläst, gibt es lautstarken Beifall und Volksfeststimmung. Wie sowas aussieht, kann man zum Beispiel in den Perlen aus Freital nachlesen*. Es ist zum Kotzen.

Man könnte Gewaltfantasien kultivieren angesichts dieser Leute. Ich würde am liebsten dreinschlagen oder ohne Internet in Nordkarelien wohnen und nichts damit zu tun haben. Wie verroht muss man denn sein, um angesichts dieser Schicksale solche Kommentare abzulassen? Ein derartiger Mangel an Menschlichkeit muss doch schon pathologisch sein? Sind das alles Psychopathen, oder ist das die Sorte ganz normaler Leute, aus denen der „böhmische Gefreite“ damals genug willige Helfer rekrutieren konnte? Ich hätte nie gedacht, dass es hierzulande solche Unmenschlichkeit wieder in solchem Maß geben könnte.

** * **

Ailan Kurdi ist nur einer von vielen Hundert Menschen, die es nicht geschafft haben, die auf der Flucht umgekommen sind, an den Mauern der Festung Europa verreckt. Abdullah Kurdi ist nur einer von vielen Hundert Menschen, die Eltern, Ehepartner, Geschwister, Kinder auf der Flucht verloren haben, ihren Tod trotz allem nicht verhindern konnten. Alle Überlebenden brauchen Hilfe und Unterstützung. Was sie nicht brauchen ist der sinnlose und erbärmliche Hass, der ihnen hier viel zu oft entgegenschlägt.

Wenn ich mir anschaue, wie es derzeit zugeht in Deutschland (und in Österreich, in Ungarn, in Frankreich, um nur einige zu nennen), dann kann ich fast Kurt Tucholsky verstehen, der kurz vor seinem Tod Ende 1935 an Arnold Zweig schrieb:

Das ist bitter, zu erkennen. Ich weiß es seit 1929 – da habe ich eine Vortragsreise gemacht und „unsere Leute“ von Angesicht zu Angesicht gesehen, vor dem Podium, Gegner und Anhänger, und da habe ich es begriffen, und von da an bin ich immer stiller geworden. Mein Leben ist mir zu kostbar, mich unter einen Apfelbaum zu stellen und ihn zu bitten, Birnen zu produzieren. Ich nicht mehr. Ich habe mit diesem Land, dessen Sprache ich so wenig wie möglich spreche, nichts mehr zu schaffen. Möge es verrecken – möge es Rußland erobern – ich bin damit fertig.“ (Zitiert nach Wikipedia)

Die Unmenschlichen dürfen dieses Land nicht wieder übernehmen. Weder die aktiven Steineschmeißer noch die intellektuellen Zündler noch die besorgtbürgerlichen Mitläufer. Gegengewalt und Gegengebrüll werden nicht helfen, im Gegenteil. Diese Leute sind, fürchte ich, nicht mehr zu erreichen. Aber ich glaube, um in Tucholskys Vergleich zu bleiben, dass Deutschland und Europa tatsächlich Birnbäume sind. Dass die „Asylkritiker“ nicht typisch für Deutschland und Europa sind, sondern eine Randerscheinung, lautstark zwar, aber letztlich nicht maßgeblich.

Jetzt müssen wir nur dafür sorgen, dass wir uns von denen nicht ins Bockshorn jagen lassen. Dass wir eine menschliche Flüchtlingspolitik durchsetzen und durch unsere Außen-, Wirtschafts- und Entwicklungspolitik dazu beitragen, dass weniger Menschen überhaupt auf die Flucht müssen. Das ist ein steiniger Acker, aber es muss sein, damit nicht noch mehr Menschen unterwegs nach Europa verrecken. Damit die Abdullah Kurdis der Welt ihre Kinder nicht im Meer verlieren. Damit das Schlagwort #KiyiyaVuranInsanlik bald der Vergangenheit angehört.

_________________

*: An den Perlen aus Freital gefällt mir, dass sie die Unsäglichkeiten, die von „asylkritischer“ Seite so geäußert werden, sammelt und einem größeren Publikum zugänglich macht. Dann kann man sich nämlich ein Bild von der Stimmung im „asylkritischen“ Lager machen, ohne lange fremde Facebook-Timelines durchforsten zu müssen.

Bedenklich finde ich dabei, wie dann Adressen und Kontaktdaten von Arbeitgebern veröffentlicht werden mit der implizierten Bitte, dort doch auf das Verhalten der oder des Angestellten aufmerksam zu machen (zumal dabei offensichtlich Fehler passieren und die falschen eine Abreibung kriegen). Das geht mir viel zu stark in Richtung Hexenjagd und Anstiftung zur Lynchjustiz. Und das ist ungefähr genauso schlimm wie die ausländerfeindlichen Hetzereien und Gewalttaten, um die es dort geht.

So verabscheuenswert die dort angeprangerten Äußerungen auch sein mögen, ihre Autoren haben trotzdem Anspruch auf rechtsstaatliche Behandlung, und das Gewaltmonopol hat nun einmal der Staat.

Auf diesen Gedankengang gebracht hat mich ein Artikel zum Thema in Fefes Blog (via)

Autor: gnaddrig

Querbeet und ohne Gewähr

5 Kommentare zu „#KiyiyaVuranInsanlik“

  1. Die Unmenschlichen dürfen dieses Land nicht wieder übernehmen.

    Es gibt gar nicht so viele Ausrufezeichen, wie man hinter diesen Satz stellen sollte.

    Ich komme nach knapp drei Wochen Urlaub ohne Internet und Fernsehen in die „Zivilisation“ zurück, die diesen Ausdruck nicht verdient (zumindest wenn ich mir die Schlagzeilen über angezündete Asylbewerberheime, ekelhafte Nazi-Propaganda-Demos der vergangenen Wochen usw. gebe). Wenn sogar die ewigen Konsenstierchen Merkel und Gabriel eindeutig Stellung gegen diesen rechten Mob beziehen, brennt die Bude.

    Gut, dass es Leute wie Dich gibt, die dagegen anbloggen.

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  2. Schöner und wichtiger Artikel! Auch ich hoffe weiterhin, dass die Äpfel bloß lauter, nicht aber zahlreicher als die Birnen sind.

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  3. Das hoffe ich auch. Immerhin lässt man die Äpfel nicht mehr so einfach mit allem davonkommen. Dankenswerterweise gibt es mittlerweile genug Leute, die gegenhalten, nicht nur schlachterprobte Antifa-Leute, sondern auch ganz normales, ansonsten eher nicht so politisches Volk. Da sehe ich durchaus ein bisschen „Ruck der Anständigen“, und das finde ich sehr erfreulich!

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