Grenzen

Seit es Menschen gibt, gibt es Grenzen. Ich meine keine Landesgrenzen, sondern die Grenzen unseres Wissens und unserer Möglichkeiten. Seit es diese Grenzen gibt, arbeitet die Menschheit sich an ihnen ab. Man versucht etwa, dem Sensenmann ein Schnippchen zu schlagen und die Sterblichkeit zu umgehen. Man hat versucht, Gold zu machen, hat vom Fliegen geträumt, hat an Tarnkappen geforscht, den heiligen Gral, den Stein der Weisen, den Eingang zum Paradies gesucht.

Grenzen anzuerkennen und stehenzulassen scheint der Menschheit irgendwie gegen den Strich zu gehen. Viele Elemente der vielfältigen Formen von Jugendkultur dürften zu erheblichen Teilen eine direkte Folge des Ablehnens bzw. des gezielten Überschreitens von (zugegeben: künstlichen) Grenzen verschiedenster Art sein. Genauso die Begeisterung für Sport und natürlich das Interesse an wissenschaftlicher Forschung. Die Entdeckung Amerikas, die Nutzung der organischen Chemie, die Raumfahrt, die Nanotechnik, sie alle sind durch das Einreißen von einst unüberwindlich scheinenden Grenzen Wirklichkeit geworden.

Das Überschreiten von Grenzen übt eine derartige Faszination aus, dass beispielsweise seit Jahren immer wieder atemlos berichtet wird, die Raumsonde Voyager 1 habe die Grenzen des Sonnensystems hinter sich gelassen, obwohl das – trotz beachtlicher Erfolge – so gar nicht stimmt.

Ständig werden irgendwo Rekorde gebrochen, Quantensprünge vollzogen, Unmöglichkeiten möglich gemacht und damit Grenzen verschoben bzw. beseitigt. Das Wissen und die technischen Möglichkeiten der Menschheit sind seit Pythagoras (oder Leonardo Da Vinci oder Marie Curie oder Alexander Fleming) atemberaubend gewachsen, schon seit Jahrhunderten kann kein einzelner Mensch mehr alles Wissen seiner Zeit kennen. Vielfach ist es einem Einzelnen nicht einmal möglich, die wissenschaftlichen Veröffentlichungen auch nur einer halbwegs aktiven Disziplin vollständig zu lesen, die Gesamtmenge des Wissens wächst einfach zu schnell.

Es ist trotzdem nicht damit zu rechnen, dass uns allzubald die Grenzen ausgehen. Ob sie uns überhaupt je ausgehen, ob also das der Menschheit grundsätzlich zugängliche Wissen endlich ist oder nicht und ob wir je so weit kommen, dass der Unterschied für uns relevant wird, ist eine interessante Frage, zu der es beim Nesselsetzer eine interessante Diskussion gibt. Jedenfalls sehen wir noch viele weiße Flächen auf der Landkarte des gesammelten menschlichen Wissens, und an mehreren Stellen am Rand der Welt stehen hohe Bretterzäune, wo es bisher nicht weitergeht.

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Derzeit sehe ich zwei solche Bretterzäune, zwei besonders abweisende Bastionen der Unerreichbarkeit, zwei unüberwindbar scheinende Grenzen: den absoluten Nullpunkt und die Lichtgeschwindigkeit. An denen kommt bisher niemand vorbei. Man ist sogar der Überzeugung, man könne dort grundsätzlich nicht dran vorbei (Details gibt es bei Wikipedia o.ä.). Das finde ich aber schwer zu akzeptieren – geht nicht gibts nicht, wie es so schön heißt. Ich kann mir gut vorstellen, dass irgendwann jemand einen Geistesblitz hat, eine genial-simple Erkenntnis, die das Überschreiten auch dieser Grenzen erlaubt.

Fangen wir mit dem absoluten Nullpunkt (0 K) an: Analog zur berühmten Antimaterie könnte und müsste es auch Antienergie geben, mit der man Materie unter den absoluten Nullpunkt kühlen können muss. Vielleicht hat Antimaterie Antienergie, oder Materie wird zu Antimaterie, wenn man sie unter 0 K in den Bereich der Antienergie herunterkühlt. Bestimmt könnte man damit alle möglichen Dinge erklären, die bislang als unergründliche Rätsel daherkommen.

Nach dieser Fingerübung machen wir uns jetzt an die Lichtgeschwindigkeit: So wie man mit Lichtmikroskopie Strukturen sichtbar machen kann, die kleiner als die Wellenlänge des verwendeten Lichts sind (die Wellenlänge des Lichts war lange als absolute Grenze für die Größe der darstellbaren Strukturen aufgefasst worden; diese Grenze ist aber kürzlich per Nobelpreis geschleift worden), wird man sicher irgendwann einen vergleichsweise simplen Trick finden, um Dinge auf über Lichtgeschwindigkeit zu beschleunigen. Oder man umgeht das Problem, indem man das kuriose Phänomen der Quantenverschränkung endlich richtig versteht und im Alltag nutzbar macht…

 

Autor: gnaddrig

Querbeet und ohne Gewähr

14 Kommentare zu „Grenzen“

  1. Vorsicht mit Quantensprüngen als Beispiel für sagenhafte Veränderungen. Sie sind nämlich winzig klein!

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  2. Das weiß ich wohl, ich benutze das Wort hier in umgangssprachlichen Bedeutung, nicht in der wissenschaftlichen. Eine Entdeckung, Idee oder Erfindung führt zu einem sprunghaften Fortschritt und damit u.U. zu einer weitreichenden, tiefgreifenden und recht plötzlich daherkommenden Veränderung.

    Später, bei der Nutzbarmachung der Quantenverschränkung, wird man es natürlich mit echten, quantenmechanischen Quantensprüngen zu tun haben. Aber das ist – man ahnt es sicher – weit außerhalb meines Fachgebiets.

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  3. Zur Temperatur : kleiner 0 K – also negativ – geht nicht. Der absolute Temperaturnullpunkt kennzeichnet ein System ohne jegliche (potentielle) Energie, also Betrag(E)=0. Oder kürzer : weniger als nix ist nicht.

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  4. Und meine geniale Idee von der Antienergie? Die fand ich gar nicht so schlecht! Ich hatte mich schon so auf den Nobelpreis gefreut 😉

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  5. Energie ist ein Ausdruck für das Potenzial, den Zustand des Systems zu ändern, und auch Antiteilchen haben eine positive Energie. Was genau soll dann Antienergie sein? (Ich weiß, Spaßbremse, doofe.)

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  6. Was weiß denn ich, bin ja kein Physiker! Und Spaßbremse? Naja, wäre ja nicht das erstemal, dass fantastische Höhenflüge mit schnöden Fakten abgeschossen werden. Immerhin hatte ich das mit der Antienergie nicht ernst gemeint und auch nicht einmal im Ansatz durchdacht, das war reine Sprachspielerei – wenn es Antimaterie gibt, warum nicht auch Antienergie, Antilicht usw. Dass die Welt nicht alles bereithält, was man sprachlich ausdrücken kann, ist vielleicht bedauerlich, aber da kann man dann nichts machen.

    Bestimmt kommt gleich jemand und teilt mit, dass das mit der Überlichtgeschwindigkeit auch nicht geht. Dann sind alle wissenschaftlichen Kühe dieses Artikels vom Eis. Ich würde mich dann bei, hm, ein paar kleinen Steaks mit Norberts Theorem über den Verlust meiner Nobelpreisträume hinwegtrösten.

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  7. Ich bin nicht überzeugt, dass wir beim absoluten Nullpunkt zu Ende sind… Ich denke da an negativer Energie (aber nicht von der esoterischen Sorte), also an eine Energie-Schuld. Weil dieser Punkt im Raum etwas Energie aus der Zukunft oder aus einem Paralleluniversum-String-Quanten-Gedöns abgezweigt hat und nun noch was zurück geben muss. Oder umgekehrt 😉

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  8. Man muss es sich ja nicht vorstellen können. Es gibt da diese Anekdote über Einstein, der – frisch nobelisiert – von einem Journalisten angesprochen wurde, dass man sich das mit der Relativität gar nicht vorstellen könne. Darauf Einstein: Das würde mich auch wundern, ich kann mir das auch nicht vorstellen. Aber vorrechnen kann ich es Ihnen! Und wenn’s nicht stimmt, ist es gut erfunden.

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  9. Lieber Gnaddrig,

    in meinem philosophischen Wellnessbad ist es kein spezielles Bedürfnis zur Grenzüberschreitung, das die Menschheit vorantreibt, sondern etwas viel schlichteres: Neugier. Neugier (natürlich eingehegt durch Vorsicht und Paranoia) ist für mich eine der fundamentalsten Antriebskräfte aller(!) Lebewesen, die auf die Suche nach Nahrung (Selbsterhalt) oder Sexualpartnern (Arterhalt) gehen müssen. Nur des Menschen Intellekt hat dem noch die Ursachen- (Vergangenheit) und Sinnsuche (Zukunft, Zweck) hinzugefügt, wobei dessen aus evolutorischem Pragmatismus geborene Beschränkung in Form einer Vorliebe für monokausale Erklärungen die einen zur anstrengenden wissenschaftlichen Weitersuche treibt, während sich andere mit meist wohltuenden religiösen oder außernatürlichen Erklärungen zufriedengeben und an der Stelle dann mit dem Weiterdenken aufhören: Sie glauben, schon gefunden zu haben, was die anderen noch suchen. Aber die Triebfeder war dieselbe.

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    Deiner höflichen Bescheidenheit in punkto Physik möchte ich hier außerdem ein gewichtiges erkenntnistheoretisches Argument entgegenhalten, das so gut ist, dass, wäre ich selbst Blogger…. aber bin ich ja nicht, also vorab danke für den Speicherplatz und den Traffic.

    Antilicht? Da bist Du nämlich nicht der erste, der beobachtet hat, dass sich Dunkelheit exakt so ausbreitet wie Licht, und es wird unter anderem Daniel Düsentrieb zugeschrieben, diese Erkenntnis zu einem Produkt, der Dunkelbirne, weiterentwickelt zu haben, die nach Einschalten helle Räume in Dunkelheit zu tauchen vermag (https://de.wikipedia.org/wiki/Dunkelbirne).

    Was, wenn die Grenze des beobachtbaren Raums nicht der Rand des Universums oder die Quelle des Mikrowellenhintergrunds wäre, sondern eine Antilichtquelle, die uns die weitere Kenntnisnahme versperrt? Vor Dir haben ganz andere Leute diese „Was, wenn…?“-Fragen gestellt: Was, wenn die experimentellen Befunde stimmen und die Lichtgeschwindigkeit tatsächlich absolut ist? Was, wenn Energie tatsächlich nicht kontinuierlich fließt?

    Die kürzeste Definition einer wissenschaftlichen Theorie (wenn ich kurz mal wirklich weit ausholen darf), die ich kenne, lautet „eine Beschreibung der Welt“. Eine gute Theorie ist mithin eine gute Beschreibung der Welt, eine mit hoher Vorhersagekraft, und sie ist in der Sprache der Mathematik formuliert, ohne dass die Philosophie m.W. bisher geklärt hätte, warum das überhaupt möglich ist bzw. ob das so sein muss oder nicht.

    Nicht selten hat ein Theoretiker, nachdem er alle bekannten Größen von seinen (manchmal aus reinen Gedankenexperimenten abgeleiteten) Formeln subtrahiert hat, einen Term übrigbehalten, der ein physikalisches Phänomen beschreibt, das zuvor nicht erwartet und also nicht gesucht worden ist und das danach tatsächlich nachgewiesen wurde.

    Nun ist auch die gesprochene Sprache zu nichts anderem geschaffen worden, als die Welt zu beschreiben, indes viel ungenauer und metaphorischer, weil sie sonst ihren Zweck nicht erfüllen könnte („Wie geht’s?“ – „Och ganz gut!“). Gleichwohl ist sie genau genug, um auch strengster Logik ein Gewand zu geben, und deshalb, zum Punkt kommend, sind hypothethische Gedankenspielereien wie Deine Antienergie absolut zulässige, sogar notwendige Methoden des Erkenntnisgewinns.

    Oder der Erheiterung. Wie nah das plötzlich beieinander liegt, nicht wahr? Wenn ich es mit den Bremer Stadtmusikanten sagen darf: „Denke nur immer fort, etwas Lustigeres als die Realität findest Du überall!“

    ***

    Und um auch meine letzten zwei Cents noch loszuwerden zur Frage nach den Grenzen des Wissenkönnens, die der Nesselsetzer im verlinkten Artikel diskutiert: Ich habe da eine eher agnostische Haltung. Zu große Komplexität oder zu großer Zufallseinfluss etc. haben bisher immer zur Entwicklung einer neuen Mathematik geführt, die damit umzugehen in der Lage ist – kein dauerhaftes Problem! Auch das Gehirn ist in diesem Licht möglicherweise irgendwann knackbar (aber vielleicht nicht so, wie wir heute meinen). Gleichwohl gilt nach Einstein auch, dass nicht nur, doch vor allem die menschliche Dummheit wirklich unbegrenzt ist. Wenn es also diese Erkenntnisgrenzen gibt, sind wir möglicherweise gar nicht in der Lage, sie zu bemerken. Ein Dunning-Kruger im ganz ganz Großen….

    In diesem Sinne.

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  10. Das ist ein sehr schöner Kommentar, danke!

    Neugier und Spieltrieb sind wahrscheinlich wirklich sehr wichtig. Die liegen jedenfalls vielen meiner Texte zugrunde. Um Erkenntnisgewinn geht es auch meistens, aber eher so am Rande. (sonst wäre ich tatsächlich Wissenschaftler geworden und hätte irgendwodran geforscht oder irgendwas versucht zu erfinden). So macht es einfach Spaß, alles mögliche durchzuprobieren.

    Und das mit dem Dunning-Kruger im ganz Großen gefällt mir wirklich. Ich weiß nicht, ob es tatsächlich so ist, aber das Bild ist klasse 🙂

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  11. Danke dass es gefällt
    >> Ich weiß nicht, ob es tatsächlich so ist
    Na wie könntest du das auch wissen, nach dieser Theorie?!
    😉

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In den Wald hineinrufen

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