Gesessen

Mal wieder mit Rückenschmerzen, verkrampftem Nacken und eingeschlafenem Po aus einer knapp anderthalbstündigen Veranstaltung gekommen. Das, was in dem Raum als Stühle angeboten wird, ist eine Unsäglichkeit. Optisch so naja, schon irgenwie schick, Design und so, mit (wie es beim Hersteller stilvoll und durchaus zutreffend heißt) formaler Zurückhaltung und konstruktiver Klarheit. Stahl und Plastik, farblich auf den Teppichboden abgestimmt.

Aber ergonomisch? Eine Katastrophe. Die leicht nach vorn abfallende Sitzfläche macht aufrechtes Sitzen auf Dauer unangenehm. Nach ein paar Minuten lehnt man sich notgedrungen an die zu niedrige und zu weiche Rückenlehne und (ich spreche da jetzt für Leute, die größer als 1,68, naja gut, 1,75 sind) hängt dann mit dem halben Rücken in der Luft, rutscht auf der erwähnten komisch geneigten Sitzfläche ohne viel Halt nach vorne und bleibt mit den Schulterblättern am erstaunlich scharfkantigen oberen Rand der Rückenlehne hängen.

Man setzt sich also wieder auf, das Kreuz von dem labberigen Plastikrückenteil kaum gestützt, lehnt sich irgendwann wieder ein wenig an, rutscht wieder durch usw. Je nach Kondition durchläuft man fünf bis zehn solche Zyklen pro Stunde.

Die Armlehnen sind auch nicht wirklich brauchbar, weil sie ziemlich schmal und oben rund sind. Wenn man die Arme aufstützen will, rutscht man früher oder später ab. Das ist dem entspannten Sitzen nicht gerade zuträglich, der Komfortgewinn durch diese „Armlehnen“ liegt irgendwo im negativen Bereich.

Leider führt das unbequeme Sitzen aus mir nicht verständlichen Gründen nie dazu, dass die Leute, die ihre Besprechungen auf solchen Möbeln verbringen, sich halbwegs kurzfassen. Im Gegenteil, sie finden keinen Anfang und kein Ende. Und praktisch immer grätscht jemand ganz kurz vor Schluss nochmal mit einer überflüssigen Wiederholung rein. Keine Fragen mehr? Dann… – Bitte, bitte, alle jetzt die Klappe halten, keine Fragen mehr zum ersten, zum zweiten, z… Wie war das nochmal mit dem xyz, da ist mir der Ablauf des gragragrahhh noch nicht ganz klar… – Schrei, hat das jetzt sein müssen? Ja, Herr Kollege, gut, dass Sie das nochmal ansprechen. Lassen Sie mich kurz…  Also noch eine Runde, 30 Minuten mindestens, adieu Ihr Bandscheiben, adieu Feierabend, und legt mir eine Tube Schmerzsalbe mit ins Grab!

Insgesamt sind diese Sitzmöbel ganz klar eine rückenmordende Fehlkonstruktion. Dafür mit einem Listenpreis von 500 Euro nicht ganz billig. Man ist ja wer, das sollen die Leute auch sehen.

Jetzt frage ich mich, wer entwirft solche Foltergeräte? Setzen die sich da auch mal drauf bevor sie das Zeug auf den Markt werfen? So rein probehalber, vielleicht sogar für mehr als so 90 Sekunden am Stück? Und, viel wichtiger, wer schafft die Dinger jeweils an? Haben die vor Vertragsunterzeichnung jemals selbst mehr als ein paar  Sekunden auf sowas probegesessen? Eine Probebesprechung abgehalten? Wissen die, was sie da tun? Oder ist das nur Vorzeige- und Abschreibungsmasse? Eye Candy? Wo bleibt eigentlich die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers? Waren der Betriebsrat und der Ergonomieberater beteiligt? Warum hat niemand die Anschaffung verhindert?

Man sollte die alle miteinander auf diese Stühle setzen und ihnen lange Vorträge vortragen, noch und nöcher, bis zum Abwinken. Dann lässt man sie das Gehörte ausführlich diskutieren. Anschließend kann man dann die einen zurück ans Zeichenbrett schicken, die anderen in einen anderen Büromöbelladen.

Bestimmt gibt es irgendwo Leute, die auf den Dingern gut sitzen, aber ich gehöre ganz sicher nicht dazu. Schlimmer sind eigentlich nur Elternabende in der Grundschule auf den Erstklässlerstühlen, aber die sind immerhin nicht für Erwachsene gedacht…

 

Autor: gnaddrig

Querbeet und ohne Gewähr

20 Kommentare zu „Gesessen“

  1. Aaarrh. Gute Besserung!

    – Sogar dieser hier (der zuhören muss, wie der König die Heldenthaten seiner Altvordern preist) wäre ohne seinen Stützstab glatt verloren:

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  2. uuuh.

    – Und wenn es wirklich bequem sein soll, aber nun ja, es trotzdem irgend unbehaglich usf., muss man sich als Betroffener sagen: Der Mensch wächst an seinen Aufgaben. Das hilft.

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  3. Da würde mich ja jetzt glatt das Design interessieren. Zum Vermeiden.
    Mal angesehen davon, daß es sowieso fast unmöglich ist, ein Sitzmöbel für alle Größen, Knochenbauten und Haltungen zu konstruieren – Stühle sind wirklich, wirklich schwierig. Schöne und bequeme Stühle haben vermutlich nur der Weihnachtsmann und der Osterhase.

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  4. Es handelt sich um den Visavis 2 von Vitra. Die haben aber auch bei mir nicht angefragt, ob ich darauf bequem sitze, bevor sie das Ding auf den Markt geworfen haben, und dann ist sowas bei rausgekommen. Dabei können die Stühle eigentlich gut – der beste Schreibtischstuhl, den ich je hatte, war auch von denen…

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  5. Hier ist z.B. so einer, Lakritze, der ist sehr schön und sehr bequem und von so 1785:

    Aber der ist auch etwas zum eher Vermeiden, denn er hat ein ziemlich abbes Bein, weswegen man weder auf einem Stuhl, noch auf einem Nichtstuhl säße, ach wenn man darauf säße, sondern dann säße man zwischen allen Stühlen.

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  6. Also mit drannem abben Bein durchausest gar nicht täte er dieses, Gnaddrig, man sitzt drauf wie ’ne Eins, Stund um Stund.
    Die Leute im ancien régime konnten wirklich sitzen, da kann man sagen, was man will. Ach, tempi passati.

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  7. Der böse Stuhl ist wirklich was fürs Auge, doch.
    Der Leierstuhl: ich rätsele über das Polster auf der Rückenlehne. Beim Knien sicher nützlich, aber wenn man sich hintenrüber fläzt, denk ich, wird er einem den Nacken brechen mit dem rosa Satin. Oder?

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  8. … das ominöse Polster hinten ist zum Armedraufstützen 🙂 , wenn man den Stuhl mal umdreht, weil man jetzt andersherum drauf sein will, darf oder muss.
    (Wenn bloß das abbe Bein ein drannes wär. Tscha, der Zahn der Zeit)

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  9. Man könnte ihm ein Fremdbein transplantieren, werweiß, eins mit Rolle gar! Dann könnte man dreiviertel sitzen und einbeins bei Nichtgefallen den Sitzplatz wechseln, mitsamt ~gelegenheit, natürlich, denn die gefällt ja. Offenbar. .)

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  10. Ein fehlendes Bein könnte man (provisorisch) durch einen Bücherstapel ersetzen. Aber, Aristobulus, wieviele Beine hätte der Stuhl denn haben sollen? Ich sehe da vier Stück, also eigentlich einen vollständigen Satz. Oder hat das jemand nachträglich ins Bild retouchiert?

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  11. Lakritze 🙂 , ja, jene gefällt sogar sehr, aber ach, ein Fremdbein nein Eigenbein (weil das eigentliche Eigenbein auf sehr eigentliche Weise dem Stuhle grad noch eigen ist) müsste ein Fremd- nein ein Eigenbeiner neu daran eigenbeinen (weil nicht fremdbeinen!), allein es müsste zum Behufe ein solcher gefunden werden, der das kann und gleichzeitig keinen exorbitanten Batzen für’s neualtklassizistische Draneigenbeinen verlangt, und wo bekommt man heut sowas noch?, *seufz*.

    – Gnaddrig, der abgebildete Stuhl ist nicht der hiesige, denn vom Hiesigen findet man kein Bild im Internet, zumal der Stuhl ja ein hiesiger ist und jener intergenetteter, von welchem man das Bild fand. Jedoch jener Stuhl ist diesem gleich, also er ist jenem Stuhle auf dem Bilde gleich, der Hiesige, nur nicht ganz, denn er ist noch etwas schöner. Der Hiesige. Wobei jener Dortige ja auch schön ist, sogar sehr. Wobei der Hiesige jedoch etwas mehr.

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  12. Stuhl oder nicht Stuhl, das ist hier die Frage!, ob’s edler im Gesäß, die Pfeil und Schleudern des wütenden Geschicks erdulden oder, sich waffnend gegen diesen Sitz von Plagen,
    durch Schnellaufstehn sie enden? Ächzen – schlafen –

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