Übergewichtig, geschieden, versoffen
Veröffentlicht: 24.02.2017 Abgelegt unter: Mein Senf dazu | Tags: Fiction, Klischee, Krimi 19 KommentareIn einem Buch, das ich vor einer Weile mal gelesen habe, liest der Protagonist nicht gerne Krimis, weil er die jeweiligen Ermittler nicht mag. Die seien nämlich allesamt übergewichtig, geschieden und depressiv und hätten Alkoholprobleme. (Ich glaube, das war Scott Manson in False Nine von Philipp Kerr, bin mir aber nicht sicher und habe das Buch auch nicht mehr greifbar. Egal.)
Der Gedanke war mir auch schon mal gekommen, es gibt bei Krimipolizisten auffallende Gemeinsamkeiten. Mir fallen jedenfalls aus dem Stand ein paar Polizisten aus Büchern ein, die das Klischee zumindest teilweise erfüllen (ich füge mal das Kriterium „eigenwilliger Musikgeschmack“ hinzu). Mal sehen:
- Harry Bosch (von Michael Connelly) – geschieden, Einzelgängertendenz, Jazzfan und aktiver Hobbysaxophonist.
- John Rebus (von Ian Rankin) – übergewichtig (soweit ich mich erinnere), geschieden, raucht und trinkt sehr viel, Einzelgänger, Musikliebhaber (Oper, soweit ich ich erinnere, jedenfalls Klassisches).
- Kurt Wallander (von Henning mankell) – geschieden, Einzelgänger, Opernfan.
- Claude LaPointe (von Trevanian) – verwitwet, Einzelgänger.
- Andrew Dalziel (von Reginald Hill) – sehr übergewichtig, mehr weiß ich nicht mehr.
- Roy Grace (von Peter James) – verwitwet (und neu verheiratet).
Da erfüllt nicht jeder alle genannten Kriterien, aber eine gewisse Häufung ist durchaus zu beobachten: Geschieden oder verwitwet sind sie fast alle, Einzelgänger auch. Die Neigung zu Jazz oder Oper ist auffällig und viel bis zu viel trinken tun die meisten von ihnen ebenfalls.
Wahrscheinlich hat die Muse der schreibenden Kunst nur einen einzigen Polizisten als Protagonisten zugelassen, sodass bei allen diesen Autoren im Grunde genommen derselbe Polizist ermittelt. Gut, sie haben ihn je nach Setting, Kultur, Zeitgeist und sonstigen Gepflogenheiten angepasst, aber im Kern sind diese Figuren alle derselbe Unglücksrabe.
Auch wenn ich nicht sicher bin, wie man glaubwürdige Figuren schreiben soll, die nicht in das eine oder andere Klischee fallen, verstehe ich Manson, wenn er sich für den aus solchen Figuren gemittelten Standardermittler auf Dauer nicht recht begeistern mag.
Neben dem zerquälten einsamen Großstadtpolizisten gibt es allerdings noch andere Typen. Etwa den gefälligen Überflieger. Beispielsweise John Puller (von David Baldacci). Das ist ein Hüne, der alles kann und weiß (Militär, Polizei, Technik, Medizin) und der nicht einmal MacGuyvers ausgefallenes Improvisationstalent braucht, um die jeweilige Situation, den Tag und die Welt zu retten. Eigentlich nicht einmal unsympathisch, die Figur, aber irgendwie überzeichnet, zu perfekt. Oder Jack Reacher (von Lee Child), ein freiwillig wohnungsloser Einzelgänger, der sehr hart zuschlägt und immer ein kleines bisschen zu gut ist. Der ist mir zu unnahbar und, ähnlich wie John Puller, einfach zu gut. (Da gefällt mir die Camel-Club-Serie von David Baldacci besser, der Protagonist Oliver Stone kommt mir realistischer vor.)
Ein dritter Typ ist das souveräne, oft verwöhnte, finanziell unabhängige Wunderkind. Clive Cussler hat gleich drei Musterbeispiele dieses Typs geschaffen: Dirk Pitt und, in einer anderen Serie, Sam und Remi Fargo. Alle sehr wohlhabend, mühelos erfolgreich, allseits beliebt, könnten mit ihrem Selbstbewusstsein mühelos eine Kleinstadt mit Strom versorgen und räumen alle denkbaren Hindernisse mit Geld oder Beziehungen aus dem Weg. Kurz: unerträgliches Volk, da sind mir die zerquälten Zausel vom Anfang doch lieber.
Philipp Kerrs Scott Manson gehört eigentlich auch in diese Kategorie: Der Vater ist Unternehmer, er selbst hat einen sicheren und gut dotierten Sitz im Board of Directors von Papas Firma und müsste eigentlich gar nicht arbeiten. An und für sich ist er auch Fußballtrainer, löst aber nebenher als freiberuflicher Ermittler Kriminalfälle in der Welt des Profifußballs. Dabei finde ich Manson als Figur glaubhaft und stimmig. Er hat als Ich-Erzähler einen angenehmen Tonfall und liest sich gut. Ich habe Hand of God und False Nine gelesen, beide spannend und originell.
Ich habe noch keinen einzigen übergewichtigen Ermittler kennengelernt.
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Nicht ml in den Krimis, die ich gelesen habe, kamen welche vor.
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Vielleicht haben Manson und ich nur die falschen Bücher gelesen.
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Das ähnliche Schema lässt sich übrigens auch an den Protagonisten der beiden populärsten Krimireihen mit »österreichischem Lokalkolorit« feststellen:
◦ Simon Brenner (von Wolf Haas) – dicklich, rote Nase vom Trinken, depressiv, von seiner Verlobten verlassen.
◦ Simon Polt (von Alfred Komarek) – übergewichtig, ständig am Weintrinken, melancholisch, alleinstehend.
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Vielleicht stellt man die Protagonisten so gern übergewichtig und versoffen dar,
damit der Leser später sagen kann, er habe sich mit schwerer und geistreicher Literatur befasst.
😉
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@ noemix: Interessant, passt ja voll ins Schema.
@ Lo: Das wird’s sein 🙂
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Vielleicht so was wie: jajaja, es ist eine Gabe und ein Fluch!
Lord Peter Wimsey (ab 1920): kapriziös, schwerreich & kriegstraumatisiert
Wachtmeister Studer (1930er): stur, verständnisvoll & wird nie befördert (Gewissen!)
Balthasar Matzbach (ab 1980): sinnenfroh, Alleswisser & sehr übergewichtig
Siri Paiboun (ab 2000): Menschenfreund, Parteifeind & Schamane
Mma Ramotswe (aktuell): unkonventionell, bestens vernetzt & traditionally built
(Ich habe zu viele Krimis gelesen. So viele, die ich keine Lust habe aufzulisten …)
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@noemix: Hmmm. Wie groß ist denn der Anteil an Frohsinnigen unter österreichischen Hauptpersonen so ganz allgemein –?
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Ah, jetzt kommen die interessanten Fragestellungen.
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Oh, einen Detektiv mit prächtigem Makel gäb’s da noch:
Lionel Essrog (1999). Der hat ein Tourette-Syndrom.
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@Lakritze, frohsinnige Ermittler als Hauptpersonen gibts vermutlich in kaum einem Krimi (außer vielleicht Agatha Christies Detektiv Poirot?)
Überdies ist auch Dürrenmatts Schweizer Kommissär Matthäi Raucher, Trinker, desillusionert, verbittert und alleinstehend.
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@ noemix: Es gibt Balduin Pfiff von Wolfgang Ecke, der ist meist vergnügt.
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Balthasar Matzenbach ist auch meist geradezu unerträglich gut gelaunt. (Dafür dann rubenshaft.)
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Der Herr Pfiff wird auch als kugelrund beschrieben, passt also.
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Interessant finde ich das Duo Jury / Plant. Beide unbeweibt, aber von der Grundstimmung her eher antipodisch angelegt. Wer von beiden mehr säuft, weiß ich nicht mehr. BMI aber unauffällig.
Sjöwall/Wahlöös Martin Beck ist auch eher melancholisch drauf, im Laufe der zehn Folgen geht die Ehe drauf, er hat aber ne Neue, IIRC.
Von Val McDermid habe ich verschiedenes gelesen, und bringe in der Erinnerung Karen Pirie und Carol Jordan durcheinander. Eine von beiden ist sehr übergewichtig, aber das Liebesleben funktioniert.
Wahrscheinlich gibt es den Topos, dass Kripoleute ständig im Bodensatz der Menschheit herumstochern müssen und darüber das Saufen anfangen und selber unerträglich werden.
Da lobt man sich doch den Kommissar Stoever, der konnte obendrein noch singen!
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Das mit dem Bodensatz mag stimmen, der Beruf geht sicher nicht spurlos an einem vorbei.
Bei Val McDermid geht es mir ähnlich, beide funktionieren gut.
Es gibt noch Ann-Kathrin Klaasen von Klaus-Peter Wolf (der mit den Ostfrieslandkrimis). Davon habe ich Ostfriesenschwur zum Teil gelesen. Klaasen fand ich ganz glaubwürdig. Leider drehte sich praktisch der ganze Dienstbetrieb um den hochverehrten, geradezu vergötterten pensionierten Ex-Chef Ubbo Heide, dessen Schützling Klaasen war. Ständig geht es „Ubbo hätte das anders gemacht“ und „Was würde Ubbo sagen“ und „Wäre doch Ubbo hier“ und „Diesen Zettel hat Ubbo hier noch aufgehängt“ (bloß hängenlassen!) und „Das war Ubbos Büro“ (bist Du überhaupt würdig, darin zu sitzen?) und der jeweilige Chef wird immer nur als eine Art Stellvertreter Ubbos auf Erden gesehen und ist gar nicht wirklich Chef.
Ich hab’s dann nicht zuendegelesen, weil es mir zu sehr auf die Nerven ging, obwohl die Geschichte an sich nicht schlecht war. Naja, und weil der Urlaub zuendeging und die Bibliothek das Buch wiederhaben wollte…
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…außerdem rauchen sie alle Milde Sorte, weil das Leben ist doch hart genug!
(Extrabreit)
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Klar, man ist eben außen kantig, innen eher zart.
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[…] hat auch einen ausgeprägten und etwas eigenwilligen Musikgeschmack (ich hätte den Mann eigentlich neulich erwähnen können, er passt dort gut ins Bild: Geschieden, trinkt gern Rotwein, hört Stockhausen, […]
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