Deutsche Kultur

Kürzlich hat sich die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung und stellvertretende SPD-Vorsitzende Aydan Özoğuz zum Thema deutsche Kultur eingelassen: „Eine spezifisch deutsche Kultur ist, jenseits der Sprache, schlicht nicht identifizierbar.“

Dafür ist ihr der AfD-Spitzenkandidat Alexander Gauland schwungvoll an den Karren gefahren: „Das sagt eine Deutsch-Türkin. Ladet sie mal ins Eichsfeld ein und sagt ihr, was spezifisch deutsche Kultur ist. Danach kommt sie hier nie wieder her, und wir werden sie dann auch gottseidank in Anatolien entsorgen können.“

Dafür wiederum hat ihn der ehemalige Bundesrichter Thomas Fischer wegen Volksverhetzung angezeigt„Wenn das keine Volksverhetzung ist, kann man den Tatbestand streichen.

Soweit so gut. Aber wie ist das jetzt mit der spezifisch deutschen Kultur?

Erstmal irritiert Özoğuz‘ Äußerung natürlich ein bisschen. Zumindest hat sie überspitzt formuliert, immerhin merkt man ja nicht nur an der Sprache, ob man gerade in Deutschland ist oder in Österreich, den Niederlanden, Spanien oder der Türkei, ein kleines bisschen spezifische Kultur muss da doch jeweils irgendwo aufzutreiben sein.

Wie man das einordnet hängt sicher auch davon ab, wie man Kultur definiert, was man dazuzählt und was nicht, da kenne ich mich nicht so gut aus. Aber so ganz ohne spezifische Kultur sind wir hierzulande dann sicher doch nicht. (Das hat übrigens eine bekannte Parteifreundin von Gauland bewogen, der Integrationsbeauftragten per Videobotschaft ordentlich ins Gewissen zu reden; findet man ganz leicht auf YouTube, einfach „özoguz storch kultur“ suchen.)

Andererseits könnte man sich fragen, wie denn die strittige spezifisch deutsche Kultur aussieht. Was genau soll spezifisch deutsche Kultur sein? Wer oder was ist typisch, klassisch, repräsentativ, maßgeblich deutsch? Bayern? Berlin? Bremen? Bonn? Stadt oder Land? Akademiker oder Ungelernte? Angestellte, Freiberufler oder Unternehmer? Beamte vielleicht?

Katholisch oder protestantisch? Pietistisch oder pfingstlerisch? Unreligiös oder horoskopgläubig? Konservativ oder progressiv? Hochdeutsch oder Dialekt, und wenn Letzteres, welcher – Bayerisch, Fränkisch, Schwäbisch, Alemannisch, Pfälzisch, Rheinländisch, Hessisch, Sächsisch, Thüringisch, Platt von Ostfriesisch über Heidjer bis Holsteinisch und Mecklenburgisch Platt, Friesisch oder sonstwas? Boßeln, Fingerhakeln, Narrensprung, Kneipe, Stammtisch, Sonntagsspaziergang, Samstags Autowaschen? Skat oder Kegeln, Fußball oder Dressurreiten? Schützenverein oder Karnevalsgesellschaft, Freiwillige Feuerwehr oder Rotary Club, Freimaurerloge oder Männergesangsverein? Kino oder Theater? Nachmittagskaffee oder den ganzen Tag lang Tee mit Kandis und Sahne, oder doch Feierabendbier? Herrengedeck oder Pharisäer? Nudeln oder Kartoffeln? Bier, Schnaps oder Wein, wenn Mittleres: Korn oder Traube, wenn Letzteres: Pils oder Weizen (oder Kölsch oder Alt oder Bock – dieses Kleinod bayerischer Bierkultur kommt übrigens aus dem preußisch-protestantischen Einbeck!) oder vielleicht Craft Beer? Schrankwand in Eiche rustikal und Fliesentisch oder Ikea? VW, BMW und Mercedes oder Trabbi und Wartburg? Eiscafé Venezia oder Balkangrill? Bratwurst oder Döner? Schwarzbrot oder Baguette? Hustelinchen oder Werthers Echte? Lakritze oder Schokolade? Wenn Letztere: Traube-Nuss? Loriot, Harald Schmidt oder Mario Barth? Urlaub im Harz oder auf dem Teutonengrill?

Weiß keiner so genau, kann niemand sagen. Oder es gibt auf 100 Leute 98 Meinungen zu jedem im vorigen Absatz angesprochenen Begriff und lange Diskussionen, aber keine abschließende Definition.

Es gibt schon eine Menge Dinge, Produkte, Bräuche, Traditionen, Gepflogenheiten in Deutschland, die man irgendwie unter dem Schlagwort deutsche Kultur zusammenfassen könnte. Aber in welcher Zusammensetzung? Die wenigsten davon sind wirklich bundesweit konsensfähig oder durch alle (oder auch nur die meisten) Gesellschaftsschichten hindurch üblich oder auf Deutschland beschränkt. So richtig greifbar scheint mir als Laie eine kohärente, spezifisch deutsche Kultur nicht zu sein, nicht einmal als flüchtiger Schnappschuss des gegenwärtigen Zustandes, und das noch bevor wir uns die seit der ersten Gastarbeiterwelle eingebürgerten Migranten und ihre mitgebrachten bzw. reimportierten Kulturelemente auch nur angeschaut haben.

Was isst man zum Frühstück? Wer geht aus welchen Anlässen wann mit wem was trinken? Wer besucht aus welchen Anlässen wann wen zuhause oder lädt zu sich ein? Es ist gar nicht so einfach, eine spezifisch deutsche Kultur zu skizzieren, das meiste ist erheblich kleinteiliger. Außerdem ist es flüchtig, in ständiger Veränderung und muss dauernd neu ausgehandelt  bzw. wahrgenommen werden. Özoğuz hat so unrecht nicht, und sogar bei der Sprache könnte man gewisse Abstriche machen.

Kann man doof finden, ist aber so. Der berüchtigte Flickenteppich ist noch da, die politische Einheit hat das nur dünn übertüncht. Deutschland ist ein recht und schlecht zusammengekitteter Haufen kleiner und sehr unterschiedlicher Steinchen. Die eine eherne, seit Anbeginn der Zeiten unverrückbare Deutsche Kultur hat es nie gegeben und gibt es nicht, kann man nichts machen.

Das mögen die Deutschland-den-Deutschen-Fuzzis natürlich nicht so gern hören. Die träumen von ganz anderen Zeiten und Umständen. Dass Herr Gauland sich, wie man liest, auf Nachfrage dann nicht mehr so gut erinnern konnte und bezüglich der Entsorgung von Frau Özoğuz in Anatolien später zurückruderte, wundert mich nicht weiter, das ist in der von den alternativ-für-deutschen Bikinifreunden besetzten Grauzone ja durchaus üblich – erst laut losböllern, dann den Schwanz einziehen und „es nicht so gemeint“ haben oder „missverstanden worden“ sein. Die Kultivierung des Mausrutschers eben.

Bloß mag ich mir aus der Ecke nichts über deutsche Kultur erzählen lassen. Schon gar nicht von Leuten, die an der Grenze auf Flüchtlinge schießen lassen wollen oder unliebsame Mitbürger am Liebsten in Anatolien entsorgen würden…

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Kalkulierter Hass

Herr Gauland, der Friede und der Müll

Autor: gnaddrig

Querbeet und ohne Gewähr

12 Kommentare zu „Deutsche Kultur“

  1. Das Missverständnis beruht auf dem Umstand, dass Herr Gauland nicht deutsche, sondern däutsche (oder sogar doitsche!) Kultur meint:

    – „Radfahrer absteigen!“
    – „Draußen nur Kännchen!“
    – „Ich zeig‘ Sie an!“
    – „Das wird man doch wohl bitte noch mal sagen dürfen, wird man das!“
    – „Wir sind hier nicht bei den Asozialen!“
    – „Geh‘ doch nach drüben!“
    – „Lange Haare, kurzer Verstand!“
    – „Lehrjahre sind keine Herrenjahre!“
    – „Da könnte ja jeder kommen!“
    – „Wo kämen wir hin…“
    etc. ad nauseam.

    „Es stier’n auf Blau und Rot umnachtet schon Millionen,
    der Tag für Massenwahn und Diktatur bricht an!“

    (Melodie: ähm… „Wildschütz Jennerwein“!)

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  2. „Eine spezifisch deutsche Kultur ist, jenseits der Sprache, schlicht nicht identifizierbar.“ und „Deutschland schafft sich ab“
    Passt doch.

    😉

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  3. Und was sagt unser Oberhüter „de Misere“ dazu? Sinngemäß: Wir macheten ja schließlich unsere Bäder und Toiletten sauber, nicht wahr? Im Gegensatz zu den „Unkultivierten“, die uns da „überrennen“ und unsere Werte (wie der erwähnte) nicht achteten.
    Die „echten“ deutschen kulturellen Werte? Na Pflichterfüllung, Ordnung, Fleiß und Sauberkeit und die pudeldeutsche Untertanentreue. Jawohl ja!

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  4. Und die Kehrwoche, ganz wichtig, dass man deren ordnungsgemäße Einhaltung auch bei den Nachbarn streng überwacht! Obwohl, das ist eine eher regionale Institution, die außerhalb Schwabens wohl meist nicht halb so ernst genommen wird wie dort…

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  5. Nur 98 Meinungen auf 100 Befragte? Bisschen tief gegriffen, würde ich sagen.
    Und Werthers Echte heißen schon lange nicht mehr so, wegen der Globalisierung, nehme ich an.

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  6. Können auch 113 sein oder 256, spätestens ab 35 ist es sowieso egal, weil kaum ein sinnvoller Konsens zustandekommen wird.

    Und die Umbenennung von Echte in Original akzeptiere ich einfach nicht. Ich bin mit „Werthers Echte“ aufgewachsen, und in ihrem urgeigensten Wesen werden sie immer „Werthers Echte“ mit dem Großvater-Enkel-Idyll bleiben, egal wie das Zeug heute etikettiert wird. Diese Art unnötiger Veränderungen sind es, die unsere Kultur verwässern und dem Multi-Kulti-Terror anheimfallen lassen!einself!

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  7. Leitkultur: Musikantenstadl, Tatort, im Ausland mit überwiegend deutschen Schauspielern gedrehte Serien, die Lüge vom Reinheitsgebot, …

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  8. „Und, völlig unverzichtbar, kein Tempolimit auf der Autobahn!“

    Das ist Deutschland (oder vielmehr Däutschland) in einer Liga mit Somalia und Afghanistan!

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In den Wald hineinrufen

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