Designdilemmata

Dass Design keine triviale Sache ist und viel Gelegenheit für Pannen birgt, ist hier schon angeklungen. Man hat wie bei vielen Optimierungsaufgaben widerstrebende und sich teilweise gegenseitig ausschließende Ziele, die man in einem für möglichst viele Benutzer akzeptablen Kompromiss zusammenführen muss – gute Benutzbarkeit bei gleichzeitig größtmöglicher Sicherheit oder Übersichtlichkeit bei gleichzeitig ausreichender Vielseitigkeit, um nur zwei Spannungsfelder zu nennen.

Ein schönes Beispiel sind die bei der Bahn vielfach als Nahverkehrszüge genutzten Baureihen 425 und 426. Jeweils am Ende eines Zugteils gibt es ein kleines Erste-Klasse-Abteil. Die Sitzplätze darin sind nicht bequemer, geräumiger oder sonstwie besser als im am anderen Ende gelegenen baugleichen Zweite-Klasse-Abteil, nur die Bezüge sind aus Kunstleder statt aus Plüsch. Um der auch hier im Regionalverkehr doppelt so viel zahlenden Erste-Klasse-Kundschaft das Leben möglichst leicht zu machen, ist direkt vor diesem Abteil die Toilette. Das sind rollstuhltaugliche Großraumtoiletten mit großer automatischer Schiebetür. Feine Sache, wenn man das mit dem Verriegeln von innen versteht (da passieren immer wieder peinliche Pannen; dass man nach automatischem Schließen noch den Riegel von Hand vorlegen muss, sehen nicht alle Benutzer).

Der kurze Weg zur Toilette mag ganz nett sein. Aber der Erste-Klasse-Fahrgast sieht jedesmal in den Toilettenraum, wenn jemand die Tür dort öffnet. Der Anblick ist nicht besonders spannend und kann je nach Verhalten der Vornutzer und dem daraus resultierenden Zustand der Örtlichkeit durchaus unangenehm sein. Und etwaige Gerüche entweichen auch zunächst in Richtung der Ersten Klasse, da hilft auch die schicke Glastür mit den mehr als großzügigen Spaltmaßen vor dem Abteil nicht. Die Geruchsbelästigung war sicher so nicht geplant, bleibt dem Zweite-Klasse-Publikum aber weitgehend erspart. Für den doppelten Fahrpreis hat die Erste-Klasse-Kundschaft ein, sagen wir, in Sachen Sinneseindrücke angereichertes Reiseerlebnis…

Jetzt die Toilette selbst. In der Kabine haben wir an der Wand neben der Kloschüssel einen beleuchteten grünen Knopf für die Spülung. Direkt daneben ist ein ebenfalls beleuchteter roter Knopf als Alarmknopf. Wer ins Klo gefallen ist kann dort per Knopfdruck Hilfe rufen, bevor die Maschine ihn in den Abwassertank saugt. Früher waren die Knöpfe fast gleichgroß und unterschieden sich vor allem durch die Farbe. Da viele Leute versehentlich den Alarmknopf statt der Spülung betätigen, wurde in vielen Zügen der Alarmknopf durch eine rundes Stück Plexiglas abgedeckt, das man beiseiteschieben muss, um Alarm drücken zu können.

In letzter Zeit wird diese Notlösung durch ein neues Design ersetzt: Der Notfallknopf ist erhaben, sehr auffällig rot beleuchtet, deutlich größer als der Spülknopf, und es führen tastbare Hartgummibänder kreuzförmig zum Notfallknopf, sodass auch Sehbehinderte und Blinde ihn finden können. Das ist gegenüber der in den älteren ICs üblichen, teils eigenwillig platzierten Braille-Beschriftung der Bedienelemente in Zugtoiletten immerhin schon ein Vorteil.

Wenn dann doch einmal versehentlich ein Alarm ausgelöst wird, muss sofort ein Zugbegleiter die alarmierende Toilette aufsuchen und Hilfe leisten. Da diese Nahverkehrszüge aber normalerweise ohne Zugbegleiter fahren, muss dann der Lokführer den Job übernehmen. Also: Anhalten, zur Toilette gehen, den Notfall beheben bzw. professionelle Hilfe holen, wenn etwa ein medizinischer Notfall vorliegt.

Das passiert trotz geschickter Abdeckung des Alarmknopfes immer noch gelegentlich. Neulich kam vom Lokführer die Ansage: Jemand hat auf der Toilette die Notruftaste betätigt. Der Alarm ist ausgelöst. Wenn kein Notfall vorliegt, wäre es nett, wenn jemand die Notruftaste nochmals betätigen würde, um den Alarm auszuschalten. Ansonsten müsste ich die Fahrt hier stoppen und den Alarm selbst ausschalten. Dann bleiben wir hier bis auf weiteres auf der Strecke stehen. Zum Glück hat sich jemand erbarmt und wir mussten nicht anhalten.

Fehlalarme sind aber offenbar immer noch ein Problem. Noch unzugänglicher kann man den Alarmknopf nicht machen, weil jemand im Notfall sonst vielleicht nicht drankäme – ersticktes Röcheln wird draußen kaum je gehört werden. Muss man sich eben damit abfinden, dass gelegentlich jemand statt zu spülen den Notruf auslöst.

Eine Lösung für das Dilemma habe ich auch nicht. Obwohl, doch, natürlich: Kameraüberwachung, und drangestöpselt künstliche Intelligenz, die die Bewegungen des Toilettengängers analysiert und bei ansonsten zu erwartenden Bewegungsabläufen eines „normalen“ Toilettengangs den Alarmknopfdruck als Spülwunsch interpretiert und umgekehrt. Es soll ja wenig geben, das sich nicht durch mehr Überwachung verbessern ließe…

Autor: gnaddrig

Querbeet und ohne Gewähr

6 Kommentare zu „Designdilemmata“

  1. Simplere Idee mit Kameraüberwachung: Kamera schaltet sich bei Drücken des Notrufknopfs ein und der Tf sieht dann, was los ist, und kann dann auch mit dem Drücker sprechen. (Sprechstellen gibt’s in einigen Zügen ja auch ganz normal an den Türen, vmtl. auch schon im Quietschie.)

    Und wenn die Kamera immer an ist und der Tf so immer sieht, was los ist bzw. wie verdreckt das Klo ist, wäre das ja eine weitere Stimme, die beim Reinigungs- und Wartungspersonal meckern kann. 🙂

    Gefällt 1 Person

  2. @ Yadgar: Ich nehme an, dass du das mit der daueraktiven Kamera in der Toilette nicht ernst meinst, oder? Die Idee, dass der Notrufknopf eine Sprechverbindung zum Zub/Tf oder sogar zur Transportleitung eröffnet, hat allerdings etwas. Äquivalent zum „Johanniterknopf“ (aka Hausnotruf) meiner Schwiegermutter.

    Like

  3. Nein, ganz so schlimm ist es nicht, und manchmal kommt man einfach nicht drumherum. Aber mein Erfahrungsspektrum reicht von „wie im Hotel“ bis „dann lieber gleich die Müll-Ecke im schmudeligen Hinterhof“…

    Like

  4. Ach was, Erste Klasse, Toilette und Kunstledersitze! Der Trend geht nicht nur in Deutschland zum Viehwaggon mit Strohstreu und Eimer zum Reinscheißen… bei den Zwischenhalten werden die Toten rausgekippt und dieselelektrisch verwertet! Humanität war gestern, können wir uns im immer härteren internationalen Wettbewerb sowieso nicht mehr leisten! Vive la dystopie!

    Like

In den Wald hineinrufen

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..