Reif für die Insel

Kollege Pfeffermatz hat einen Reisebericht England abgeliefert, in dem er dieses teils etwas skurrile Land sehr schön beschreibt. Nicht ganz vollständig natürlich, aber so als Einstieg ziemlich gut. Beim Lesen musste ich an meine ersten Erfahrungen mit England denken.

Mein erster Kontakt war, Mitte der 80er Jahre, ein durchaus interessanter und lehrreicher, aber eigentlich nicht sehr bemerkenswerter Sprachlernaufenthalt in einer Kleinstadt an der Südküste. Zwei Wochen, Anreise per Bus, Unterbringung in einer Familie vor Ort, zusammen mit einem Kumpel aus der Schule, wir waren so ungefähr in der 8. oder 9. Klasse. Jeden Tag etwas Sprachunterricht, ansonsten Ausflüge: St. Paul’s Cathedral und Madame Tussauds; Brighton Pier, den Royal Pavilion; Herstmonceux.

Mein zweiter Ausflug war eine Radtour ein paar Jahre später, ein Freund und ich sind in den Sommerferien zwei Wochen lang durch Südengland gefahren. Felixstowe, King’s Lynn, Lincoln, Peterborough, Oxford, Brighton, Dover. Die meiste Zeit sind wir über möglichst kleine Nebenstraßen gefahren, sind dabei durch Orte wie Alpheton, Ely, Daventry, Pangbourne, Basingstoke, Arundel gekommen. Regen hat es in grob klischeewidriger Weise die ganzen zwei Wochen nicht gegeben, nur einmal die ersten vereinzelten Tropfen eines dräuenden Gewitters, das sich dann aber doch verzog. Zum erstenmal durchnässt wurden wir auf der Rückfahrt schon in Deutschland.

Überfahrt

Wir fahren mit einer britischen Reederei vom belgischen Zeebrugge nach Felixstowe an der Ostküste. Tariftechnisch sind wir Fußgänger, aber man schickt uns mit den Rädern aufs LKW-Deck. Ein Lademeister drückt uns ein paar Meter fingerdickes Seil in die Hand und meint, wir sollen die Räder da am Rand an dem Gestänge festbinden. Das sind irgendwelche Stahlverstrebungen mit Lücken drin, wo sich die Räder gut befestigen lassen. Die mehrstündige Überfahrt verbringen wir teils sitzend in einer Lounge, teils liegend in einem Gestell für Koffer. Viel Schlaf ist nicht, auch wegen der zahlreichen lautstarken Saufkundschaft, die die Duty-Free-Gelegenheit nach Kräften auschöpfen und die ganze Nacht hordenweise vorbeitrampeln. Nach Ausschiffung am Morgen schlingern wir vom Hafen in Felixstowe ein paar Kurven weit aus dem Ort und schlagen an der erstbesten Stelle unser Zelt auf, um etwas Schlaf nachzuholen. Nachmittags fahren wir dann noch ein paar Kilometer zu der winzigen Jugendherberge in Alpheton (gibt’s leider nicht mehr), wo es eine Küche und eine Art Dusche gibt.

Nachtlager

Als Schüler haben wir nicht übertrieben viel Geld. Deshalb haben wir vor, die meisten Nächte wild zu campen und alle drei oder vier Tage in eine Jugendherberge zu gehen. Bei der Planung klang es idyllisch: Man fährt nachmittags so lange, bis man eine nette Stelle findet, am Besten in der Nähe eines Baches oder eines Brunnens, und dort lässt man sich dann nieder. Leider hatten wir nicht gewusst, dass in England sehr viele Straßen von Hecken gesäumt sind und man deshalb ganz oft sehr lange gar nicht erst eine Stelle findet, an der man die Straße überhaupt verlassen könnte. Und sogar ohne dieses Problem ist es nicht ganz so einfach – es gibt Gegenden, da findet man kein Plätzchen, das nicht in Sichtweite irgendwelcher bewohnten Häuser wäre, wie wir gleich am ersten Tag beim Durchqueren des Ruhrpotts erfahren mussten.

Außerdem muss man die hübschen Plätze auch erst finden, die sind meistens nicht direkt an der Straße, sondern man muss mal einen Feldweg oder einen Waldweg ein paar hundert Meter ausprobieren, mal um eine Ecke mehr fahren. Und oft findet man dort dann doch nichts Idyllisches, sondern nur illegale Müllhalden oder Schlammlöcher, sodass man umkehren und weitersuchen muss. So manchen Abend hatten wir bis nach Einbruch der Dunkelheit nichts Rechtes gefunden und mussten dann irgendwann mit der erstbesten Ecke Vorlieb nehmen, die sich bot, weil das Ausweichen auf eine Jugendherberge auch nicht möglich war, weil die nächste zu weit weg war und sowieso schon geschlossen hätte.

Einen Abend ist es besonders schlimm mit den Hecken (und unsere Karte ist mit 1:250.000 in einem viel zu großen Maßstab, als dass man ihr solche Informationen entlocken könnte, das Internet und datenfähige Smartphones sind noch Science Fiction, was nicht gedruckt vorliegt, ist praktisch nicht existent), es ist schon recht spät geworden und wir haben keinen Nerv mehr. Also halten wir einfach an einem Gatter zu einer viehfreien Weide an und heben die Räder drüber. Ungefähr fünfzig oder hundert Meter vom Gatter entfernt steht ein großer Baum direkt neben einem Gatter zur Nachbarwiese. Dort schlagen wir das Zelt auf und übernachten.

Am nächsten Morgen sind wir eben am Frühstücken, als der Bauer im Landrover angefahren kommt. Hält am Gatter, sieht uns, dreht um und fährt wieder weg. Wir wittern Ärger und packen eilig zusammen. Dabei sehen wir, dass an dem Baum direkt über unserem Zelt ein großes Schild hängt: „No Trespassing“ – Volltreffer. Bevor möglicher Ärger kommen kann, sind wir längst über das Gatter und hinter der nächsten Kurve verschwunden.

Technische Defekte

Wir fädeln uns irgendwo am Ende der Welt durch Nebenstrecken, die unerwartet in Feldwegen münden, über Viehgitter und Trampelpfade, wo laut Karte eigentlich kleine Straßen sein sollten. Wo doch Straßen sind, passen die Beschilderung und die Straßen nicht recht mit dem Kartenmaterial zusammen. Mein Kompass leistet wertvolle Dienste. Wir irren tapfer ganz ungefähr in die richtige Richtung (die Straßen sind ja auch keine 100 Meter am Stück gerade, und der wenige Verkehr ist dafür umso halsbrecherischer und wegen der Hecken sieht man das nicht kommen) auf die anvisierte Jugendherberge zu, brauchen aber länger als gedacht. Viel länger. Es wird dunkel, wir sind noch nicht halbsoweit wie geplant.

Endlich kommen wir auf eine etwas größere Straße, wir sind fast sicher, wo wir jetzt sind und in welche Richtung wir müssen. Leider gibt es keinen Radweg. Mein Rücklicht und sein Scheinwerfer sind kaputt, deshalb fahre ich vorn, er hinten. Ein Streifenwagen hält neben uns, das Fenster wird runtergekurbelt: „Do you know where you are going? Can we help you?“ Wir (nicht ganz wahrheitsgemäß) so: „Jaja, alles ok.“ „Ok, take care then“ oder so. Die kaputten Lampen werden geflissentlich nicht erwähnt.

Irgendwann geht meine Gangschaltung kaputt, ein nicht mehr ganz neues Expemplar der damals weitverbreiteten Torpedo-Dreigang-Nabenschaltung. Ich kann nur noch im zweiten Gang fahren, was auf Dauer nervig ist – für Steigungen zu lang übersetzt, für die Ebene zu kurz. Ein Besuch im Fahrradladen in King’s Lynn verläuft wenig ermutigend – diese Art Gangschaltung ist auf der Insel praktisch unbekannt. Der Mechaniker meint, er könne das Ding gern zerlegen und (höchstwahrscheinlich) auch wieder zusammensetzen, ohne Teile übrig zu behalten. Aber reparieren wohl nicht. Ersatzteile bzw. die ganze Schaltung könne er zwar aus Deutschland bestellen, aber die käme natürlich erst in mehreren Wochen. Ein neues Fahrrad kann ich mir auch nicht mal eben so leisten. Bleibt für den Rest der Tour der zweite Gang. Um’s Kilometerfressen war es uns sowieso nicht gegangen, aber in der Folge wird es noch behäbiger. Immerhin ist der Mann im Fahrradladen sehr nett. Er hatte uns am Tag vorher auf der Straße in Richtung King’s Lynn gesehen und gibt uns jetzt noch Tips, wie wir am Besten und Ruhigsten in Richtung Lincoln kommen.

Einkauf

Irgendwo unterwegs kommen wir an einem Waffenladen vorbei. Mein Freund will sich dort ein Wurfmesser und einen Shuriken kaufen. Wieso er das will, ist mir nicht recht klar, und wieso ausgerechnet in England, wo ja schon größere Taschenmesser problematisch sein können, finde ich erst recht etwas rätselhaft.

Aber gut, wir sehen uns also im Laden um. Natürlich kommt die Frage der Lizenz auf – in England darf ja nicht jeder Waffen kaufen. Mein Freund ist Mitglied in einem Kampfsportverein mit asiatischem Namen und hat den Mitgliedsausweis dabei. Er deutet an, Wurfmesser und Shuriken gehörten dort zur Standardausrüstung, er benötige so etwas für seine sportliche Betätigung im Verein. Der Verkäufer hat leichte Bauchschmerzen, will aber wohl auch Umsatz machen und beschließt, den Mitgliedsausweis als Lizenz zu werten, trägt die entsprechende Nummer in ein Register ein und verkauft die beiden Waffen (mit der Auflage, die bitte ganz unten ins Gepäck zu legen und während des Aufenthaltes im Vereinigten Königreich nicht hervorzuholen). Ob diese beiden Waffen damals in Deutschland legal waren, weiß ich nicht…

Blumen

In der Kathedrale von Peterborough kommen wir mit einer älteren Dame ins Gespräch, die den Blumenschmuck in der Kirche betreut und gerade Gestecke bastelt. Sie freut sich über das Lob, und es ist alles sehr nett.

Wasser

Mehrmals klingeln wir bei wildfremden Leuten, um unsere Wasserflaschen aufzufüllen. Die meisten sind freundlich, aber reserviert. Einmal werden wir an einem Bauernhaus in die Küche gebeten (es ist draußen heiß und drinnen angenehm kühl) und ein bisschen ausgefragt. Es ergibt sich eine nette, gesellige Pause, und ich glaube mich zu erinnern, dass wir zum Wasser noch Kekse mitgekriegt haben.

Essen

Über die englische Küche wird viel gelästert. Teils zurecht, teils zu unrecht. Während ich Feinheiten wie Lamb in Mint Sauce erst Jahre später kennen und schätzen gelernt habe, ebenso wie Shepherd’s Pie und Baked Beans on Toast, habe ich auf dieser Tour meine erste Begegnung mit englischen Chips. Wir bestellen und sind halbwegs baff, weil das ja gar keine Pommes sind, sondern sozusagen geviertelte frittierte Kartoffeln. Ganz was anderes, aber gar nicht schlecht, esse ich seitdem immer wieder gern, dann aber mit meistens mit Fisch dabei, und nie ohne Essig.

Schlangestehen

Kreditkarten oder ähnliches haben wir natürlich nicht, Bargeld war uns zu riskant (udn der Umtausch zu teuer), deshalb haben wir Postsparbücher dabei, von denen man gebührenfrei in Landeswährung abheben kann. Im Postamt von Ely zwischen King’s Lynn und Cambridge heben wir zum erstenmal Geld ab. Dort begegnet uns zum ersten Mal die Englische Schlange™: In der Schalterhalle ist zwei Meter vom Tresen entfernt eine Art Geländer mit einem Ein-und einem Ausgang. Die eine Schlange fängt am Eingang an, und wenn einer der Schalter frei wird, geht der nächste zu dem Schalter.

So vermeidet man das damals in Deutschland noch praktisch vorgeschriebene Problem, die richtige (also kürzeste bzw. schnellste) Schlange zu wählen und unweigerlich in der langsamsten zu landen bzw. dass ein weiterer Schalter genau dann geöffnet wird, wenn man schon lange steht, und natürlich am falschen Ende des Tresens, sodass alle anderen vor einem dort sind. Nicht so in englischen Banken, dort steht man gesittet zentral an und verteilt sich graziös auf die freiwerdenden Schalter und alle sind zufrieden. Seither hat sich das hierzulande ja auch eigebürgert; ein ziemlich sinnvoller Import von der Insel übrigens.

 

Autor: gnaddrig

Querbeet und ohne Gewähr

5 Kommentare zu „Reif für die Insel“

  1. Mein Aha-Erlebnis als Schüler war damals der Besuch in einem Buch- und Spieleladen auf der Insel. Die schiere Masse an kriegerischem Material in allen Darreichungsformen wirkte auf mich als von „Kein Kriegsspielzeug in Kinderhand!“-Debatten geprägter Jugendlicher schon recht befremdlich.
    Das mit Abstand skurrilste Erlebnis mit der berüchtigten Britischen Warteschlange hatte ich ein paar Jahre später dann in einem Plattenladen in Oxford. Hinter dem breiten Kassentresen blätterte eine demotivierte junge Hilfskraft in einem Magazin (Prä-Smartphone-Zeiten), außer mir kein Kunde im Laden. Ich schritt zur Theke um zu bezahlen. Keine Reaktion. Nach einer Minute räusperte ich mich und meinte „Excuse me…“. Woraufhin der Typ hochsah und auf das Schild „Please cue here“ wies, das nach links zeigte. Ich hatte mich der Kasse allerdings von rechts genähert. Vermutlich

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  2. Ja, das gute alte Postsparbuch. War eine feine Sache, einschließlich der Heiterkeitsanfälle deutscher Postbeamter, wenn diese nach der Rückkehr die Eintragungen ihrer schwedischen oder portugiesischen Kollegen betrachteten.
    Während meines Auslandssemesters in Edinburgh besaß ich sogar zwei Postsparbücher. Das war die einfachste Art, dort an Geld zu kommen, und zwei waren nötig, um die monaltliche Obergrenze für Abhebungen zu umgehen.

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  3. Auch ich war mit +/- 16 Jahren per Fahrrad in GB. Wir waren zu dritt und fuhren von London Victoria Station runter nach Brighton und über Southhampton, Stonehenge und Oxford wieder zurück nach London. In den 2 Wochen steuerten wir jeden Tag eine Jugendherberge an, wo wir uns möglichst gegen 17 Uhr anmeldeten, und gingen dann ins Kino. Jeden Abend sahen wir so 2 Filme hintereinander. Danach war ich nochmal im berühmten Flower Power Jahr in London, als gerade der Beatles-Zeichentrickfilm „All you need is love“ rauskam, den ich mir natürlich anschaute. Grüsse!

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In den Wald hineinrufen

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