Nebelstreif

Meine Tochter hat kürzlich in Musik mit Goethes Erlkönig zu tun gehabt. Vergleich der Vertonungen von Johann Friedrich Reichardt und Franz Schubert. Welche Stimmungen werden da wie dargestellt oder hervorgerufen, so Sachen. Aus dem Anlass habe ich mir die beiden Versionen selbst auch mal angeschaut und schreibe hier ein paar Gedanken auf.

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Reichardt hat ein ziemlich braves Lied draus gemacht. Saubere Strophen, artiger, sehr salontauglicher Gesangspart, konventionelle Klavierbegleitung, die genau das ist: Begleitung. Sie folgt der Singstimme und unterlegt sie mit Akkorden. Was da an Ausdruck und Stimmung rein soll, muss die Singstimme liefern, das Klavier untermalt und unterstützt das allenfalls.

Schubert dagegen zieht alle Register, die er im Set-Up Klavier mit Singstimme so zur Verfügung hat. Was sein Flügel da bringt, könnte zumindest stellenweise der Klavierauszug einer dramatischen Filmmusik sein, sehr atmosphärisch und intensiv. Die gesungene Melodie kann da leider nicht mithalten. Man kann zwar schon Erzähler, Kind, Vater, Erl unterscheiden, aber die Melodie will mir nicht recht zum Text passen. Töne und Phrasen sind da irgendwie aneinandergepappt, ohne viel Bezug zum Text, zur Sprachmelodie oder zueinander, dafür mit willkürlichen Sprüngen. Das ganze wirkt auf mich reichlich gewollt und ist zu geziert für den dramatischen Stoff.

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Die beiden Versionen bringen das Unheimliche, Beängstigende des Textes auf ganz unterschiedliche Art zum Ausdruck. Bei Schubert steckt der Grusel in der Musik insgesamt. Schuberts Erlkönig kommt süßlich schmeichelnd aus dem Nebel geschwebt. Die gruselige Situation im dunklen Wald mit dem poltrigen Bass tritt in den Hintergrund, während das Klavier die Idylle intoniert, die Erlkönig vorzuspiegeln versucht.

Bei Reichardt stellt der Erlkönig selbst monoton-stimmlos das Unheimliche der Situation dar, während das Klavier vielleicht etwas verhaltener klingt als in den anderen Passagen, aber eigentlich nichts anderes macht als sonst im Stück auch.

Ich kann nicht sagen, was ich besser finde. Beide Ansätze haben was – gut interpretiert können beide das Beklemmende des Textes angemessen ausdrücken. Aber es ist Musik von vor 200 Jahren, und man hätte heute vielleicht mehr musikalische Ausdrucksmöglichkeiten. Könnte man Elemente von Reinhardt und Schubert in eine neue Vertonung einfließen lassen?

Mir schwebt eine Coverversion von Schubert vor, wo der Triolen-Klangteppich von einer gedämpften E-Gitarre gespielt wird, das Bassmotiv anfangs von einem E-Bass reingepoltert wird. Der Text wird dann nicht nach Schubert gesungen, sondern eher mit verteilten Rollen schauspielerisch gesprochen, näher an Reichardt. Die steigende Panik des Kindes könnte auch instrumentell ausgerdrückt werden; die Begleitung würde sich von anfangs sehr diszipliniert, gedämpft, sparsam im Lauf des Stücks zu opulenterer Gitarrenarbeit steigern, mit stufenweisem Dazunehmen des Schlagzeugs. Das Bassmotiv könnte nach und nach auch von E-Gitarre und Bass synchron gespielt werden. Da sollte sich ein atmosphärisch dichtes, aber klanglich nicht überladenes Stück Musik draus machen lassen. Leider übersteigt es meine Fähigkeiten (und meine technische Ausstattung), so eine Version zu arrangieren und einzuspielen.

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Der Erlkönig hat immer wieder Leute fasziniert, und es haben sich immer wieder Leute drangemacht, vertonte Versionen zu basteln, sehr oft auf Grundlage von Schuberts Musik. Aber wenn ich mir anhöre, was es tatsächlich so an Coverversionen von Schuberts Erlkönig gibt, graust es mich ein bisschen.

Da gibt es die ambitionierte Version des Nolan Stolz Rock Orchestra, mit der ich überhaupt nichts anfangen kann. Es gibt Rap-Versionen, Acapella-Versuche, etwa von Maybebop. Dann bin ich auf mehrere brachiale Death-Metal-Versionen mit Grunzvocals und Gitarrengetrümmere gestoßen, auf andere Metal-Versionen, die mir oft auch zu überladen wirken und v.a. die Stimmung von Goethes Text überhaupt nicht hinkriegen. Ein paar fangen gut an, kegeln sich aber meist mit Einsatz der Singstimme aus dem Rennen. Insgesamt ist das enttäuschend. Da müsste mal jemand was einspielen, das mir gefällt…

Autor: gnaddrig

Querbeet und ohne Gewähr

5 Kommentare zu „Nebelstreif“

  1. (Missgeschick: das sollte „.mp3“ heißen, nicht „.mp4“!)

    [Hab’s geflickt, der Link sollte jetzt funktionieren. gnaddrig]

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  2. Reichardt war preußischer Musikbeamter, Schubert Altwiener Hallodri. So unterschiedlich wie ihre Vitae sind auch ihre musikalischen Ausdrucksweisen.

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In den Wald hineinrufen

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