Mehr oder weniger anonym

Im Internet sind viele anonym unterwegs, und das aus gutem Grund. Wenn man sich anschaut, wie in den Kommentaren von Blogs und Onlinezeitungen geholzt und gekeilt wird; wieviel Häme und Hass dort ausgegossen wird; wie schnell man, gerade bei bestimmten Themen, handfeste Drohungen reinkriegen kann – dann liegt der Gedanke nahe, dass man die eigene bürgerliche Existenz davor schützen will. Erst recht, wenn man Familie hat, womöglich Kinder.

Wenn ich durch meine Äußerungen Ärger provoziere und damit meine eigene Nase in Gefahr bringe, ist das zunächst meine Sache. Wenn meine Kinder da hineingezogen werden, ist das ganz etwas anderes, und allerspätestens da hört der Spaß dann auch auf. Den Mund will ich mir trotzdem nicht verbieten lassen. Also habe ich lange anonym geschrieben.

Aber was genau ist überhaupt anonym? Die Frage klingt erstmal banal, aber ganz so einfach ist es nicht.

Ich mache jetzt mal einen kleinen Schlenker, um mich dem Thema dann wieder zu nähern. Also, vor kurzem gab es auf dem gwup-Blog eine animierte Diskussion zum Thema “Heilpraktiker” – noch zeitgemäß?. Der Artikel selbst ist vom November 2012 und hatte bis November 2013 ungefähr 120 Kommentare gesammelt. Die sind in zwei Diskussionsschüben aufgelaufen, der erste hauptsächlich direkt nach Veröffentlichung im November 2012, der zweite fing mit dem Auftritt einer Person mit dem Nick Heilpraktikerin im August 2013 an. Das zog sich bis November 2013 hin, dann war erstmal Ruhe.

Mitte Januar 2015 trat dann eine Person mit dem Nick Gast auf den Plan und trat eine Kommentarlawine los, die der Hausherr nach ungefähr 170 neuen Wortmeldungen durch Sperren der Kommentarfunktion beendet hat.

Inhaltlich hat das nicht viel Neues gebracht, Gast hat kaum etwas geschrieben, das Heilpraktikerin nicht vorher auch schon geäußert hatte, Gast war nur hartnäckiger, ausführlicher und repetitiver. Gegenargumente (oder überhaupt Fakten) hat Gast nicht wirklich zur Kenntnis genommen, dafür hat sie gebetsmühlenhaft ihre angeblichen medizinischen Kenntnisse und therapeutischen Großtaten wiederholt.

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Im Rahmen des Kommentaraustauschs wurde auch das Thema der Anonymität im Internet angesprochen. Gast wirft anderen Kommentatoren vor, sich hinter anonymen Nicks zu verstecken und deshalb ungehemmt auskeilen zu können. Selbst schreibt sie auch anonym, und sie belegt keine ihrer Behauptungen. Ist sie überhaupt Heilpraktikerin? Hat sie überhaupt eine Praxis? Geht diese Praxis so gut, wie sie behauptet? Hat sie die Tests und Behandlungen, die sie erwähnt, wirklich angewendet? Erhält sie wirklich so viel Lob und Patienten von Medizinern? Man weiß es nicht und kann es nicht wissen.

Ich bin sicher, mit ein wenig Recherche könnte ich mir einen vergleichbaren Hintergrund für meine Onlinepersönlichkeit zusammenbasteln und, solange ich mich nicht allzweit aus dem Fenster lehne, halbwegs glaubwürdig verwenden.

Kein Zweifel also, Gast hat dort völlig anonym kommentiert. Der Klarname ist nicht bekannt und alles, was sie über sich behauptet, kann Fiktion sein, man weiß es nicht. Auch lässt sich keine Verbindung zu anderen Auftritten von Gast im Internet herstellen, weder im gwup-Blog noch anderswo. Anderswo wird sie ähnlich anonym agieren, wenn sie überhaupt anderswo aktiv ist. Gast dürfte nur der für diese Diskussion gewählte Nick sein, kein allgemeingültiger. Und selbst wenn, es dürfte genügend Leute geben, die an allen möglichen Stellen als „Gast“ kommentieren, sodass man Schwierigkeiten hätte, Kommentare anderswo dieser Person einigermaßen zuverlässig zuzuordnen. (Außer man hätte Zugang zu den beim Kommentieren hinterlegten E-Mail- und IP-Adressen, und wer hat das schon.)

Andere Kommentatoren auf dem gwup-Blog sind zwar auch anonym, man weiß also nicht, wer sich hinter den verschiedenen Nicks verbirgt, aber einige haben eigene Onlineprofile (Gravatar o.ä.), die sie zum Kommentieren auf verschiedenen Blogs benutzen. Denselben Leuten kann man auch bei psiram begegnen, manchen auch bei Stefan Niggemeier, auf Astrodicticum Simplex und anderen Seiten. Diese Präsenz und der Fundus der so auffindbaren Kommentare derselben Person ermöglichen es, sich ein ungefähres Bild davon zu machen, wie so jemand tickt, welche Positionen sie oder er vertritt, welche Themen sie oder er beackert usw. Das ist zwar immer noch anonym, aber solche Kommentatoren bieten ein vielleicht rudimentäres, aber wiedererkennbares Profil, an dem man sie messen kann.

Einen Schritt weiter gehen diejenigen, die nicht nur durch die Bank einen Nick verwenden, sondern auch eine eigene Internetpräsenz haben, etwa ein Blog wie ich. Auch wenn der bürgerliche Name, der Wohnort und solche Dinge immer noch nicht bekannt sind, hat man doch ein Profil, eine Adresse, die zu dem Nick gehört. Wer ein Blog betreibt, baut sich damit ja durchaus eine Existenz auf, man hat eine bestimmte Reichweite, ein bestimmtes Stammpublikum, einen durchsuchbaren Fundus an Meinungsäußerungen. Und wenn man nicht als der völlige Klamauk- oder Haudraufkommentator durchs Internet zieht, sondern versucht, halbwegs vernünftig und berechenbar aufzutreten, hat man damit eben auch einen Ruf zu verlieren.

Und dann gibt es natürlich die Leute, die unter ihren Klarnamen kommentieren. Die gibt es im gwup-Blog und anderswo auch, um die geht es hier aber nicht, weil sie eben nicht anonym sind.

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Ich selbst verdrehe mich nicht besonders, weder beim Bloggen noch beim Kommentieren. Denkart, Ansichten und Schreibstil sind weitgehend gleich. Wer mich in natura kennt, wird mich in meinen Blogposts und Kommentaren ganz bestimmt wiedererkennen. Gut, persönliche Informationen und biographische Details lasse ich entweder ganz weg oder verfremde sie, weil ich vor allem meine Kinder nicht ungefragt ins Licht der Öffentlichkeit stellen will. Aber man kann sich anhand dessen, was ich so von mir gebe, sicher ein gewisses Bild von mir machen. Und das ist meiner Meinung nach ein Grenzfall von anonym – meinen Namen und meine Adresse kennt niemand, der gnaddrig im Internet kennenlernt, aber ich bin – anderers als Gast – sicher nicht im engeren Sinne anonym unterwegs.

Wenn jemand so ganz aus dem Nichts auftaucht und völlig ohne Zusammenhang kommentiert, finde ich das immer ein bisschen unangenehm. Jedenfalls so lange, bis sich nach mehreren Diskussionsbeiträgen ein bisschen Persönlichkeit abzuzeichnen beginnt und ich mir eine wenigstens rudimentäre Vorstellung von der Person machen kann. Wenn jemand mit eigenem Profil und am Besten eigenem Blog im Hintergurnd kommentiert, finde ich das wesentlich angenehmer, weil ich die Leute dann leichter einschätzen kann und eher weiß, wieviel Reserviertheit angebracht ist.

P.S.: Ich musste arg an mich halten, diesen Artikel nicht mit Fifty Shades of Anonym zu überschreiben. Eigentlich hätte das sein müssen, aber weder zum Buch noch zum Film mag ich mich äußern, da ich beide nicht kenne. Und ich mag auch nicht auf jeden Zug aufspringen, der grad durchs Dorf getrieben wird. Daher der andere Titel.

Autor: gnaddrig

Querbeet und ohne Gewähr

2 Kommentare zu „Mehr oder weniger anonym“

  1. Super Beitrag! Für mich macht den Reiz Deiner Anonymität aus, dass ein Bild von Dir in meinem Kopf entsteht – ein äußerst sympathisches, um mal bissl zu schleimen 😉

    Das Problem ist halt in der Tat, dass man sich als Kommentator oder Blogger sehr gut überlegen sollte, wie man sich exponiert. Nicht, dass man sich argumentativ angreifbar macht, jeder Erwachsene sollte damit umgehen. Sondern, dass das eigene Umfeld, ganz besonders Kinder, in Mitleidenschaft gezogen werden können, sobald man sich mit gewissen Zeitgenossen und Themen kritisch auseinandersetzt. Ich zum Beispiel möchte keinen Nazi oder Reichsdepp oder Hardcore-Eso vor meiner Tür stehen haben.

    Einerseits schade. Andererseits phantasieanregend. Offtopic: Deine Fotos sind oberamtlichst! (jetzt aber genug Lob, ich such jetzt solange bei Dir, bis ich was zu meckern hab…)

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  2. Danke für die Blumen, das lese ich natürlich sehr gern 🙂

    In Sachen Anonymität geht es mir ähnlich – die Leute, mit denen ich hier im Blog und anderswo im Internet zu tun habe, erzeugen ein Bild, eine Vorstellung allein auf der Grundlage ihrer Kommentare. Die Art, sich auszudrücken, die Art zu argumentieren, besondere Themen, die jemand beackert usw. bilden ein Gesamtbild. Leute sind mir dabei dann mehr oder weniger sympathisch, je nachdem. Ob oder inwieweit ich dieses Bild mit der realen Person zusammenbringen würde, wenn ich die Leute mal in natura treffen würde, weiß ich natürlich nicht, da habe ich bisher noch keine Erfahrungen.

    Ich finde es aber auch reizvoll, dass man u.U. mit Leuten sehr gut kann, die man im echten Leben vielleicht nie beachtet hätte, weil sie vom Alter, vom Stil, vom persönlichen Hintergrund oder auch nur vom Musikgeschmack in ganz anderen Sphären unterwegs sind als man selbst, und dass man so interessante und oft genug wertvolle Erfahrungen macht, die einem außerhalt des Internets entgangen wären.

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