Stacheldraht

stacheldraht

Heute vor 73 Jahren sind Sophie Scholl, Hans Scholl und Christoph Probst, Mitglieder der Weißen Rose, in München-Stadelheim für ihren Widerstand gegen die Nazi-Diktatur hingerichtet worden. Ihr Verbrechen: Kritische Auseinandersetzung mit Worten und Taten der Machthaber und, daraus abgeleitet, Aufruf zum Widerstand gegen ein mörderisches Regime.

Zehn Jahre vorher hatten Häftlinge des Konzentrationslagers Börgermoor im Emsland das Lied Die Moorsoldaten geschrieben. In Börgermoor saßen überwiegend politische Gegner der Nazis ein. Mit dem Lied haben sie – wie später die Weiße Rose mit ihren Flugblättern – einen Blick hinter die Fassade Nazi-Deutschlands ermöglicht. Gehört hat man sie nicht, weder die Moorsoldaten noch die Weiße Rose. Das Unheil nahm seinen sattsam bekannten Lauf bis zum bitteren Ende. Es waren zu wenige, die der Wahrheit ins Auge zu blicken wagten. Zu wenige, die den Mut zum Widerstand hatten.

Umso beschämender und widerwärtiger ist es, wenn heute immer wieder tausende Mitbürger unter der Parole Wir sind das Volk Gift und Galle gegen Geflüchtete speien und zum Widerstand gegen das angebliche Unrechtsregime Merkel aufrufen. Bei aller Kritik an der Regierung – Deutschland steht nicht am Abgrund, wir leben nicht in einer Diktatur, und es ist völlig lachhaft, Begriffe wie nationale Notwehr in den Mund zu nehmen und sich vor einem durch Überfremdung oder gar gezielte „Umvolkung“ drohenden „Volkstod“ zu fürchten.

Inwieweit diejenigen, die da so laut krakeelen, selbst überhaupt Träger der angeblich bedrohten christlichen, abendländischen oder deutschen Kultur sind, lassen wir mal offen. Die freiheitlich-demokratische Grundordnung scheinen sie ja großenteils zu verachten. Anstand, Solidarität mit Schwächeren und ganz allgemeine Menschlichkeit scheinen sie weitgehend abgelegt zu haben. Das legen jedenfalls die Kommentare nahe, die nach jedem fremdenfeindlichen Vorfall in sozialen Netzwerken, Blogs, Kommentarspalten usw. zu lesen sind. Nach Freital war es so, nach #KiyiyaVuranInsanlik, nach jedem Brand in einer Unterkunft, jetzt nach der „Busattacke von Clausnitz“ und dem „Brand eines ehemaligen Hotels“ in Bautzen ist es wieder so. Wer starke Nerven hat, kann sich das hier genauer anschauen.

Ich finde diese Entwicklungen erschreckend und ausgesprochen abstoßend. Dabei beunruhigt es mich sehr, dass neuerdings so viele anscheinend ganz normale Leute, nette Nachbarn, Familienväter und -mütter da mitpöbeln und eine Hartherzigkeit und Menschenverachtung an den Tag legen, die sich gewaschen hat. Was diese Leute so lautstark verteidigen ist nicht das Land, in dem ich aufgewachsen bin und lebe. Die sind nicht das Volk, das ich zu kennen glaube: Das weitgehend friedliche, großenteils spießige, oft ermüdend engstirnige, immer wieder lustige und nicht allzu selten liebenswerte Volk der Dichter und Denker, der Handwerker und der mittelständischen Weltmarktführer, der Schrebergärtner, Briefmarkensammler und Nippespolierer. Ich sehe stattdessen Neidhammel, Angstbeißer, wirklich oder vermeintlich Zu-kurz-Gekommene, die sich gegenseitig anstacheln und Rückendeckung geben.

Ich möchte weiter in einem einigermaßen weltoffenen, kultivierten, rechtsstaatlichen und solidarischen Deutschland leben, nicht in einem verrohten, antisozialen, menschenverachtenden #Kaltland, in dem Hass, Häme und Egoismus gesellschaftliche Norm sind. Ich will „mein“ Deutschland diesen brüllenden, steineschmeißenden, feuerlegenden „Besorgten“ und ihren politischen Hintermännern nicht einfach so überlassen (andere Länder auch nicht, aber dort wohne ich nunmal nicht).

Diese Leute tragen ihr Gerede von angeblichen Werten wie eine Monstranz vor sich her, aber in Wirklichkeit haben sie statt Werten nur Ellenbogen und Spucke. Und selbst wenn keine Neuauflage des 3. Reichs ins Haus steht, ist das, was die „Besorgten“ und die strippenziehenden Strategen da bieten, ganz und gar keine akzeptable Marschrichtung.

Lasst sie damit nicht durchkommen!

Autor: gnaddrig

Querbeet und ohne Gewähr

10 Kommentare zu „Stacheldraht“

  1. …und im Internet mähren sich diese Hasshirne petabyteweise aus, die Zahl rechtspopulistischer, rechtsradikaler, rechtsextremer und dezidiert neonazistischer Websites dürfte allein im deutschsprachigen Raum längst in die Zehntausende gehen, für jede Seite, die über diesen Dreck aufklärt (wie z. B. http://www.psiram.com) entstehen zehn neue rechte Seiten, alle voll mit dem immer gleichen geisteskranken Gesülze von Chemtrails, Illuminaten, Reptiloiden, Mind Control, Codex Alimentarius und was die Eso-Bibel-Ballaballa-Nazi-Wahnpalette sonst noch so an Verschwörungsmüll zu bieten hat.

    Die Leserkommentarspalten der großen Online-Medienportale sind seit etlichen Jahren fest in rechter Hand, wenn man vom Anteil der rechten bis rechtsextremen Postings dort auf die reale politische Landschaft in Deutschland schlösse, stünde die Machtübernahme einer Koalition aus AfD und NPD unmittelbar bevor… und ich habe mindestens bei Welt Online und Focus den Verdacht, dass seitens der Online-Redaktionen diese Klientel gezielt angelockt und nach Kräften mit entsprechender tendenziöser Berichterstattung oder (bei ihrem Ruf nach durchaus nicht rechten Portalen wie Zeit oder Spiegel) Themenauswahl gefüttert wird – viele Kommentare (deren Zahl ja immer beim jeweiligen Artikel mit angezeigt wird!) bringen viele Klicks, und viele Klicks bringen hohe Werbeeinnahmen. So muss das wohl laufen, einen anderen Grund kann ich mir nicht vorstellen, weshalb Medienverantwortliche, die selbst sicherlich nicht diesem Gedanken“gut“ (der passendere Ausdruck wäre Hirnkot!) anhängen derart widerwärtiges menschenverachtendes Gehetze fördern sollten.

    Ab und zu wird mal ein Kommentar gesperrt, noch viel seltener ein rechter Website vom Netz genommen (Volksverhetzung fängt übrigens keineswegs erst dann an, wenn „die Jungs mit dem doppelten Blitz“ (Rechtsrock-Band „Stahlgewitter“) mitsamt Neu-Auschwitz herbeigewünscht werden!), aber im Großen und Ganzen können die Hassköpfe das Netz völlig unbehelligt vollkotzen.

    Was haben wir uns nur mit diesem Internet eingehandelt? Kriegen wir diese Büchse der Pandora noch einmal zu? Am Besten wäre es, Internet würde wieder das werden, was es bis Mitte der 1990er Jahre war: kompliziert zu bedienen, für Privatleute viel zu teuer und daher im Wesentlichen auf Universitäten beschränkt, nur Studenten, Dozenten und wissenschaftlichen Mitarbeitern zugänglich. Das bin ich zwar seit bald 20 Jahren auch nicht mehr (von daher wäre es schade um meine eigenen Internetprojekte), aber so habe ich noch „surfen gelernt“…

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  2. Tja, das Internet kriegt man nicht mehr zurück in die Büchse. Und stimmt, der Irrsinn wuchert da ganz schlimm. Kommentarspalten sind oft besonders deprimierend. Selbst bei Zeit Online, wo sie einigermaßen draufschauen und allzuhartes Gehetze meist recht fix kommentiert löschen, geben bei vielen Themen „Besorgte“ den Ton an und müllen dort so viel Dreck rein, dass ich mir das oft von vornherein gar nicht mehr antun mag.

    Immerhin gibt es nach wie vor hartnäckige Gegenstimmen, und Gegenhalten finde ich wichtig. Sogar wenn man rein mengenmäßig gegen Spinner, Durchgeknallte, Rechte usw. nicht ankommt, soll doch deren Geratze nicht das einzige sein, was man im Internet findet.

    Und, um ehrlich zu sein, bloß weil da tausend Leute dummes Zeug schreiben und nerven wie’s Tier, würde ich auf das Internet nicht verzichten wollen. Das ist in vieler Hinsicht so nützlich, das tät mir schon sehr fehlen. Ich weiß fast nicht mehr, wie wir damals ohne ausgekommen sind…

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  3. Früher dachte ich mal, dass sich in den Kommentaren im Internet nur äußert, was die Leute ohne Internet bisher ganz privat geredet haben. Inzwischen bin ich aber der Meinung, dass sich die Stimmung durch das Internet hochschaukelt. Und wenn bei einem Artikel schon druntersteht „158 Kommentare“, weiß man wieder, was abgeht. Manchmal mische ich mich da ein, aber Spaß macht’s nicht. Danke für deinen Text, der mir aus der Seele spricht!

    Ja, an dieses Internet kann man sich gewöhnen. Als ich kurz vor dem Examen war, es muss so ca. 1987 gewesen sein, wurde an „meinem“ Institut gerade diskutiert, ob evtl. jeder Prof einen Faxanschluss für sein Sekretariat braucht, weil das zentrale Institutsfax doch ganz schön zu tun hatte. Und dann kam eine Absolventin, die kurz vorher eine Promotionsstelle an einem Max-Planck-Institut bekommen hatte, und erzählte, dass es da etwas gäbe, was sich „E-Mail“ nennt. Wir von der deutschen Zweitligauni haben mit offener Kinnlade zugehört 🙂

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  4. Freut mich zu wissen, dass ich nicht als Einziger so denke 🙂

    Ich bin sicher, dass sich das hochschaukelt. Ausgangspunkt solcher Kommentierorgien und Shitstorms sind sicher Überzeugungen, die schon vorhanden sind. Aber dann bestärken sie sich gegenseitig, stacheln sich an, besaufen sich am Echo. Keiner will zurückstehen, man rückt gegen Andersargumentierende zusammen usw.

    158 Kommentare können ok sein, wenn die aber innerhalb von 25 Minuten nach Veröffentlichung des Artikels aufgelaufen sind, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass bei den ersten zehn sieben bis acht widerwärtige, unflätige, sachfremde oder einfach nur dämliche Kommentare sind und man sich das kaum noch antun mag.

    E-Mail? Habe ich 1994 oder 95 angefangen, zentraler Computerraum an der Uni. Mein Professor hat von Computern nichts wissen wollen, der hat auf einer nichtelektrischen Schreibmaschine gearbeitet und Microfiche für das A und O technischen Fortschritts gehalten. Die Sekretärin war immerhin schon elektrisch unterwegs, und erst als der alte Herr in den Ruhestand ging wurden im Institut die ersten Rechner angeschafft, kurz vor der Jahrtausendwende muss das gewesen sein.

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  5. Es sind sehr sehr viele die ebenso denken und fühlen. Sie sind nur leiser. Sie posaunen und schreien nicht rum. Sie agieren einfach. Helfen und reichen Hände.
    Das Netz treibt die Meute. Ich merke in persönlichen Gesprächen lassen sich Menschen schnell zum Denken anregen. Zum Nachdenken. Jedoch… es scheint manchmal so müssig. Und die eigene Kraft schwindet.
    Es braucht geballte positive Energie. Und hier und da ein paar Nackenschläge für ein wenig Besinnung an vielen Ecken. Dort wo die Lemminge geballt Stellung beziehen.
    Peace

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  6. @gnaddrig:
    „E-Mail? Habe ich 1994 oder 95 angefangen“

    Ich kann es auf den Tag genau sagen: es war der 15. Februar 1995, als mich ein Freund und Kommilitone mal nachmittags ins Kölner Uni-Rechenzentrum einlud… dem Wort „Internet“ bin ich das erste Mal bewusst im Oktober 1994 begegnet, in einer Übung „Datenbankrecherche für Sozialwissenschaftler“!

    „Mein Professor hat von Computern nichts wissen wollen, der hat auf einer nichtelektrischen Schreibmaschine gearbeitet und Microfiche für das A und O technischen Fortschritts gehalten.“

    Lass mich raten – du hast irgendwas an einer Philosophischen Fakultät studiert?

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  7. Nicht ganz, ich bin Diplom-Übersetzer. Wir arbeiten eigentlich schon lange mit Computern, Internet usw. Der betreffende Prof war aber selbst kein Übersetzer, sondern Sprachwissenschaftler und Gelehrter der alten Schule, daher nicht ganz so technikaffin…

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  8. In dem von mir erwähnten Institut handelt es sich um ein geisteswissenschaftliches… „Mein“ Prof war in diesen Dingen zwar nicht firm, aber aufgeschlossen (solange er sich nicht selbst damit befassen musste), und seine Sekretärin hatte als erste einen PC mit Textverarbeitung einschl. 9-Nadel-Drucker, der den Rest des Stockwerks in den Wahnsinn getrieben hat, wenn die soundsovielte Fassung des im Werden begriffenen Buches mal wieder ausgedruckt wurde. Als Studentische Hilfskraft habe ich auf diese Weise nicht nur den Großen Kopierschein, sondern auch den Großen Endlospapier-Randabreiß-und-Seitenabtrenn-Schein gemacht 🙂

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  9. Wenn tausende Mitbürger schreien: Wir sind das Volk – da fragt man sich freilich, was dann die vielen Millionen anderen Mitbürger eigentlich sein sollen, die nicht mitschreien?
    (»Namentlich ein gewisser unterer Mittelstand des Geistes und der Seele ist dem Überhebungsbedürfnis gegenüber völlig schamlos, sobald er im Schutz der Partei, Nation oder Sekte [..] auftritt und Wir statt Ich sagen darf.« – Robert Musil)

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In den Wald hineinrufen

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