Dalbi qüwehn pävko zyg

Vor knapp hundert Jahren haben Arnold Schönberg, Josef Matthias Hauer, Herbert Eimert, Anton Webern, Josef Rufer und Alban Berg die Zwölftontechnik eingeführt (Details hier nachzulesen). Bei Musik, die nach einem der unter diesem Titel zusammengefassten Verfahren komponiert ist, muss jeder Ton der abendländischen Zwölftonskala einmal verwendet werden, bevor der erste zum zweiten Mal auftauchen darf. Oder so ähnlich. Es gibt da verschiedene Ausprägungen und Verfahren.

Der Witz von dem ganzen erschließt sich mir nicht. Das klingt für mich alles unangenehm schräg. Atonal eben, und dass man die Missklänge nicht mehr wie in der freien Atonalität einfach so fließen lässt, sondern sie nach einem bestimmten Schema fabriziert, macht sie für meine Ohren nicht besser. Aber egal, muss ja nicht jedem gefallen. Damals war das jedenfalls das ganz große Ding.

Die Literatur hat nie Vergleichbares geschafft. Die freie Atonalität hat wohl ihr (wenigstens ungefähres) literarisches Äquivalent, nämlich den etwa zur gleichen Zeit entstandenen Dadaismus, aber den Übergang in ein vergleichbares Regelkorsett hat die Literatur nicht geschafft. Der Dadaismus war seltsam zaghaft, hat sich nie von der Tonalität der gesprochenen Sprache freimachen können oder wollen, blieb trotz aller vorgespiegelten Radikalität und Antitraditionalität immer in überkommenen Formen verhaftet. Der Literatur sind also bisher die kreativen und theoretischen Höhenflüge verwehrt geblieben, die die Musik seit Schönberg erleben durfte. Sie ist in pseudoromantische oder -klassische Gewohnheiten zurückgefallen und vegetiert jetzt in weitgehender Belanglosigkeit dahin.

Um dem Abhilfe zu schaffen, präsentiere ich hier die von mir entwickelte 30-Buchstaben-Technik. Dabei wird Text aus Buchstaben so komponiert, dass erst alle Buchstaben des zugrundeliegenden Zeicheninventars einmal verwendet werden, bevor der erste wieder vorkommt. Die Umlaute und ß werden als eigenständige Buchstaben gewertet, das ergibt in Summa 30 Buchstaben. Buchstabenkombinationen wie ch, sch, ei, eu, äu oder ie bleiben außen vor, da sie ja aus den vorhandenen Buchstaben zusammengestellt werden können.

Ich bin noch nicht sicher, ob man die Umlaute und das ß tatsächlich gelten lassen sollte. Konsequenterweise müsste man dann auch alle möglichen anderen diakritischen Zeichen und Buchstabenkombinationen zulassen, die etwa im Polnischen, Tschechischen oder in den skandinavischen Sprachen üblich sind, und das würde dann zu unübersichtlich. Anders gesagt, man muss sich überlegen, ob man nach deutschen orthographischen und phonetischen Gepflogenheiten aussprechbare Gedichte produzieren will, oder ob man sich aus diesem Käfig befreien will.

Da ich oben die Zaghaftigkeit des Dada bemängelt und den Schritt in eine größere Radikalität gefordert habe, muss ich hier konsequenterweise dafür plädieren, dass nur die die Grundformen der Buchstaben ohne jeglichen Zusammenhang verwendet werden, das q also auch konsequent ohne u. Damit wäre man unabhängig von der deutschen Sprache, deren Strukturen man sich ja eigentlich entziehen will, und hätte ein für den gesamten auf lateinischer Basis verschrifteten Raum einheitliches Zeicheninventar.

Andererseits hätte man in dem Fall zuwenig Vokale zur Verfügung, sodass es sehr schwierig wäre, aussprechbare Texte zu produzieren. Da ein Lautgedicht, das nicht laut gelesen werden kann, ein Widerspruch in sich ist, habe ich mich für den Mittelweg entschieden und die Umlaute einbezogen. Ob das angenommen wird, werden wir sehen, wenn die ersten Lyriker mit dieser neuen Technik arbeiten.

Für Reihenfolgen, Umkehrungen, Krebse und deren Umkehrungen gelten ähnliche Regelungen wie in der Zwölftontechnik.Theoretisch ließe sich dasselbe Prinzip auch auf die zu verwendenden Schrifttypen und Schriftgrade anwenden (man beachte, wie im nachfolgenden dadaistischen Beispiel – typographische Version unter „Quelle“ verlinkt – die Typen dumpf zeilenweise verwendet wurden. Da hätte jeder Buchstabe oder doch wenigstens jedes Wort in einer neuen Type gesetzt werden können). Ein zuvor festgelegter Bestand an Typen, idealerweise 30, entsprechend der Buchstabenzahl, würde dabei nach denselben Regeln durchdekliniert wie die einzelnen Zeichen. Ebenso könnten auch verschiedene Schriftgrade zur Anwendung kommen, obwohl 30 aus typographischen Gründen kaum realisierbar sein dürften. Als Hommage an Schönberg könnte man mit 12 verschiedenen Schriftgraden arbeiten.

Das Problem hieran wäre, dass das typographische Wirrwar ja gerade von der nüchternen Klarheit, vom reinen Klang des Textes, ablenken würde und diesen so zwangsweise in den Hintergrund drängen müsste. Daher schlage ich vor, auf typographisches Theater zu verzichten und konsequent eine schlichte Type in einem Schriftgrad zu verwenden.

Die Vorteile dieser neuen Technik möchte ich an einem Beispiel illustrieren. Zunächst lasse ich mit Hugo Ball einen Vertreter des klassischen Zürcher DADA zu Wort kommen:

KARAWANE
jolifanto bambla ô falli bambla
grossiga m’pfa habla horem
égiga goramen
higo bloiko russula huju
hollaka hollala
anlogo bung
blago bung
blago bung
bosso fataka
ü üü ü
schampa wulla wussa ólobo
hej tatta gôrem
eschige zunbada
wulubu ssubudu uluw ssubudu
tumba ba- umf
kusagauma
ba – umf

Hugo Ball, Lautgedicht „Karawane“ (Quelle)

Mal ganz abgesehen davon, was das für ein Titel für ein Lautgedicht ist: Karawane. Ein Wort, das im Wörterbuch steht. Hätte man da nicht was Lautmalerisches finden können? Und dann der Text selbst. Blago bung ist miefiger Kitsch, und eschige zunbada hätte auch ein Nietzsche im Suff geschrieben haben können. Unsere neue Technik zwingt dagegen zu ganz anderer Radikalität. Bei uns geht, fortschrittlichkeitstechnisch, gewissermaßen die Post ab, wie ich anhand eines ersten Gehversuchs zeigen möchte:

DALBI QÜWEHN PÄVKO ZYG

dalbi föckjem wäxüß
thruzpyng voqs
qüwehn miljurb kodgaf
scytzväx pöß

fnülzgreß dsimbach
qwuxy pävko jöt
dzenckil xarstow möbvuß
fyghäj qüp

glendzmo früskwöj
thyp qaväßbi
xuc

gnaddrig, Lautgedicht „Dalbi qüwehn pävko zyg“, 2013

Es handelt sich hier um fünf Zyklen, also Verse, die jeweils das gesamte Zeicheninventar enthalten. Die Überschrift zählt nicht dazu, folgt aber der Regel und bildet ungefähr einen Vierfünftelzyklus. Wenn man sich nicht von dem ungewohnten Schriftbild abschrecken lässt, sondern sich auf den Text einlässt, wird man aus den Zeilen die Sphärenklänge eines neuen, besseren Zeitalters klingen hören. Auf zu neuen Ufern!

Autor: gnaddrig

Querbeet und ohne Gewähr

9 Kommentare zu „Dalbi qüwehn pävko zyg“

  1. Also, ich bevorzuge ja Stegreif-Sprachenkreation:

    Virr!

    Kidurru kawat ne palobinom ta-vakun ze palabi hanale? Me kakori tavaneb miltarinompa ek ne vadallamot ke karitabin – zapatanakut ellap terimandropas kari panagat. Maskankoriam tevalon urri zu pulnari pirpawuz, ne kelimo ka arinevalon me korikanem. Villo ke karantap arinal va temindrel ne hanalo tepanom? Zakamperi ta olvanep mirruban tamaskarim eslavon derapinak vilpanari ne inavilon maparr!

    Im deutschsprachigen Debian-Forum wollte man mich dafür schon zwangseinweisen lassen… bayerische Zustände!

    Ein linguistisch bewanderter Freund (http://www.ismailmohr.de) meinte kürzlich, der Text changiere zwischen Bahasa Indonesia und Esperanto…

    So ähnlich sehen übrigens auch meine spontanimpovisierten Städtenamen aus, wenn ich in Freeciv mal die Lojbanistani (immer nur Afghanen, Georgier oder Rheinländer ist ja auch öde auf die Dauer…) spiele!

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  2. Was mir eben aufgeht: Ein streng zwölftondadaistischer Text nach den oben vorgestellten Regeln besteht aus einer Aneinanderreihung echter Pangramme. Und wenn man dadaistisch unterwegs ist, kann man es sogar ohne große Mühe als als Palindrom bauen. Ungeahnte Möglichkeiten…

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